Grenzerfahrungen als Lokalpolitiker
Der eine ist bei der SP und seit sechs Jahren vollzeitlich als Burgdorfer Stadtpräsident tätig, der andere politisiert für die FDP und amtet seit Anfang 2021 als Gemeinderatspräsident in Kirchberg. Beide haben einen unternehmerischen Hintergrund: Stefan Berger gründete nach seinem Chemiestudium die Firma «ReseaChem GmbH», die heute als Dienstleister in den Bereichen Analytik und Synthese sowie Biotechnologie tätig ist. Andreas Wyss hat sich nach acht Jahren als Geschäftsführer des Berner Bauernverbands mit der Firma «Wyss Management und Beratung» selbstständig gemacht.
«Hope»-Redaktionsleiter Florian Wüthrich, der selbst in Burgdorf wohnt und die beiden Interviewgäste persönlich kennt, lud auf der Schwingerbrücke zum Gespräch.
Wie funktioniert die Zusammenarbeit zwischen euch als Nachbargemeinden?
Stefan Berger: Sehr gut. Die Gemeindegrenzen sind zwar da, aber bei der Arbeit muss man über seine Grenzen hinausgehen. Gute Lösungen entstehen nur, wenn man zusammenarbeitet. Dies gilt für die Nachbargemeinden, die Schweiz und weltweit.
Andreas Wyss: Wir sind für die Leute da und haben viele gemeinsame Themen. Erst kürzlich tauschten sich der Gemeinderat von Kirchberg mit dem Gemeinderat von Burgdorf während eines Nachtessens darüber aus, wo es Probleme gibt, die man gemeinsam angehen kann.
Stefan Berger: Das schönste Beispiel ist diese Brücke, sie verbindet unsere mit der anderen Seite und damit die Bevölkerung von Kirchberg mit der von Burgdorf.
Dieser Austausch ist nicht selbstverständlich in einer Welt, in der immer mehr Menschen in einer Informationsblase leben. Wie wichtig ist es, das eigene Denken herausfordern zu lassen?
Andreas Wyss: Sehr wichtig! Weiterkommen kann man nur, wenn man sich mit anderen Ansichten konfrontiert. Das heisst nicht, dass man sie gut finden muss. Aber wenn man zuhört, weshalb das Gegenüber eine Situation anders beurteilt, führt das zu einer Entwicklung, zu einer Horizonterweiterung.
Stefan Berger: Wo man kann, soll man Grenzen überwinden. Es entstehen oft gute Ideen, wenn man mit anderen zusammenarbeitet. Ich suche lieber gemeinsam tragbare Lösungen, als Grenzen aufzurichten. Darauf kommt es an und das bringt uns weiter.
Ist es die Kunst eines Stadtpräsidenten und eines Gemeinderatspräsidenten, das Gespräch nicht abreissen zu lassen?
Stefan Berger: Natürlich will man möglichst vielen Leuten gerecht werden, aber bei allen schafft man das nie. Es gibt immer Personen, die eine Entscheidung als das Hinterletzte bezeichnen, andere sind begeistert davon. Das macht vielleicht die Schweiz aus, unsere Kompromissbereitschaft. Kompromisse bringen die Gesamtheit oft weiter, auch wenn das Vorgehen nicht alle begeistert.
Andreas Wyss: Wenn du ein Projekt umsetzen willst, musst du die Mehrheit im Boot haben. Auch im Gemeinderat ist das so. Es braucht die Bereitschaft, über das eigene «Gärtli» hinauszusehen und auch an die Region zu denken.
Stefan Berger: Auf den politischen Gegner zugehen, mit ihm an den Tisch sitzen und reden, das finde ich wichtig. Manchmal ist es eine Grenzerfahrung, mit einem Hardliner einer anderen Partei eine Lösung zu suchen. Doch das gehört zu unseren Aufgaben.
Politiker werden mit unterschiedlichsten Interessen konfrontiert, sind Kritik ausgesetzt. Bringt euch das an eure Grenzen?
Stefan Berger: Ich kann mich nicht immer gleich gut abgrenzen. Und es ärgert mich, wenn etwas nicht gelungen ist. Da überlege ich, wo habe ich Fehler gemacht? Wo hätte ich Kritiker früher mit ins Boot holen sollen?
Andreas Wyss: Anliegen weiterhin ernst zu nehmen, wenn man gegenteiliger Meinung ist, hat mich während der Pandemie schon an meine Grenzen gebracht. Es ist richtig, dass jeder in der Schweiz seine Meinung zum Ausdruck bringen darf. Das ist eine Grundlage der Demokratie. Aber wo es um Massnahmen geht, die alle betreffen, stösst man an Grenzen, wenn man nicht mehr aufeinander zugeht.
Stichwort Grenzerfahrungen: Bei dir, Stefan, bekam die Öffentlichkeit Ende 2017 mit, dass du dich einer Chemotherapie unterziehen musstest. Was hat dich hindurchgetragen?
Stefan Berger: Der Grundgedanke: Jetzt behandeln wir das und lösen das Problem. Mein Krebs war gut therapierbar. Wenn man selbst positiv eingestellt ist, hilft das enorm viel. Die Familie hat geholfen und ich hatte auch während der Krankheit den Anspruch, zu arbeiten. Tagsüber wurde mir die Chemotherapie verabreicht, abends vertrat ich im Gemeinderat die Geschäfte. Ich wollte nicht im eigenen Elend versinken. Das war mein Antrieb.
Wie stehst du persönlich zum Glauben, Stefan?
Stefan Berger: Ob das ein Glaube ist oder ob wir von einer Grundhaltung reden, ist für mich nicht ganz klar. Vermutlich gibt es etwas, das über uns steht, ich lasse das aber offen. Die Kirche ist auch offen, man kann hingehen oder nicht. Für mich ist es wichtig, dass wir wieder mehr zusammenstehen und von der Ich-AG wegkommen.
Wie ist das für dich, Andreas?
Andreas Wyss: Für mich hat der Glaube eine regulierende Funktion. Wenn ich Herausforderungen gegenüberstehe, weiss ich, dass ich nicht allein bin. Ich muss nicht nur auf meine eigene Kraft bauen, da ist mehr. Ich habe eine Zuflucht, erlebe Geborgenheit. Auch wenn etwas gelingt, weiss ich: Das ist nicht nur mein Verdienst. Glaube ist nicht nur dann ein Thema, wenn es mir schlecht geht, sondern auch wenn es gut läuft.
Lasst uns das Thema Grenzerfahrungen noch etwas weiterziehen! Auch diese Publikation bewegt sich an einer Grenze – der Grenze von Kirche und Gesellschaft. Was denkt ihr über die Verbindung von Kirche und Staat?
Andreas Wyss: Beim Institutionellen zwischen Kirche und Staat ist meiner Meinung nach eine Trennung nötig. Doch für mich persönlich sind Glaube und Werte wichtig. Sie können einen wichtigen Beitrag leisten für die Gesellschaft. Wenn man Werte wie Nächstenliebe lebt, kann das sehr guttun. Das Problem ist, dass auch Glaube wieder zu Abgrenzung führen kann. Die Grundlagen des christlichen Wertekonstrukts sind nicht negativ für die Gesellschaft, im Gegenteil.
Stefan Berger: Für mich müssen Kirche und Staat getrennt bleiben. Ich habe wenig Berührungspunkte mit dem Glauben. Grundsätzliche Werte wie Solidarität oder dafür zu sorgen, dass es allen gut geht, sind für mich gesellschaftliche Werte. Bei Problemen, wie sie durch den Ukrainekrieg auf uns zukamen, wären wir als öffentliche Hand ohne die Kirche überfordert gewesen. Die Heilarmee stellte Räume zur Verfügung. Ihre und Leute aus der reformierten Kirche leisteten sehr viel Freiwilligenarbeit bei der Betreuung von Flüchtlingen. Das war ein unbezahlbarer Wert für die Gesellschaft.
Aktuell sind wieder Unsicherheiten und Ängste präsent, zum Beispiel aufgrund der Energiekrise. Wie geht ihr damit um?
Andreas Wyss: Wichtig ist, dass man sich nicht bremsen lässt und aufgibt. Die Aufgabe der Politik ist, trotzdem weiterzugehen. Die Weltlage kann ich nicht verändern mit meinem Gemeinderat, aber ich kann beeinflussen, was in meinem Dorf läuft.
Stefan Berger: Wir können Zuversicht verbreiten. Auch wenn sie nicht in die ganze Welt ausstrahlt, können wir in unserem Umfeld Möglichkeiten schaffen. Der drohende Energiemangel und die steigenden Kosten lösen Angst aus. Trotzdem können wir Flüchtlingen hier eine Perspektive geben. Ich finde, da sind wir in Burgdorf gut unterwegs. Wir hatten kein Konzept, um Flüchtlingskinder einzuschulen, wir haben es einfach gemacht. Und es kommt gut. Wir versuchen, das Beste aus der Situation zu machen, auch wenn nicht alles perfekt ist.
In der Politik braucht man ein gesundes Selbstvertrauen. Seid ihr Hoffnungsträger für die Region?
Stefan Berger: Schwierige Frage, das müssten die Leute auf der Strasse beantworten. Durch die Wahl haben sie mir ihr Vertrauen geschenkt. Aber selbst würde ich mich nicht als Hoffnungsträger bezeichnen.
Andreas Wyss: Hoffnungsträger ist ein grosses Wort. Die Wählerschaft drückt aus, dass sie darauf vertraut, dass wir etwas in ihrem Sinn bewegen. Ich bin in der Politik, weil ich das spannend finde. Und weil ich überzeugt bin, dass ich mit meinen Fähigkeiten und Ideen etwas beitragen kann. Ich kann etwas gestalten, besonders in der Gemeindepolitik. Für die einen bist du damit Hoffnungsträger, für die anderen nicht. Damit muss man leben können.
Wie steht es mit eurer Hoffnung für die Zukunft?
Stefan Burger: Wir müssen mehr auf das setzen, was verbindet als auf das, was trennt. Wir müssen gemeinsam anpacken, denn allein können wir es nicht schaffen.
Andreas Wyss: Ich wünsche mir, dass wir zuversichtlich bleiben. Es herrscht grosse Unsicherheit, im Privaten wie auch wirtschaftlich und weltweit. Da müssen wir durch, aber das wird sich wieder ändern. Deshalb bleibe ich zuversichtlich.
Hier können Sie sich das ganze Gespräch mit Herr Stefan Berger und mit Andreas Wyss anschauen:
(Video noch einbetten)
Datum: 24.11.2022
Autor:
Florian Wüthrich
Quelle:
HOPE-Regiozeitungen