Aus Widerstand wachsen Perlen
Bereits 2008, als der Altenpfleger aus Deutschland die Schweizer Chemikerin Renata heiratet, sind beide sozial engagiert – anfänglich in der Ausländer- und Milieuarbeit. Zusammen mit anderen Freiwilligen des Vereins Parparim besuchen und beschenken sie Frauen im Rotlichtquartier in Thun, nehmen Anteil an deren Lebensgeschichten und Nöten. Immer mehr wünschen sie sich, Wohn- und Arbeitsperspektiven zu schaffen, die den Frauen den Ausstieg aus der Prostitution ermöglichen. Stephan reduziert sein Pensum auf 40 Prozent, um sich intensiver um Menschen in Not kümmern zu können. Zusammen mit Renata träumt er von einem Haus für die besondere Lebensgemeinschaft.
El Rafa – Gott heilt
Zur gleichen Zeit wälzt ein anderes sozial engagiertes Paar eine grosse Frage. Paul und Hanni Stettler von der Stiftung El Rafa (Hebräisch, zu Deutsch «Gott heilt») leben und arbeiten seit 1986 mit drogenabhängigen und psychisch kranken Menschen. In Schwendibach begleiten sie diese in ein suchtfreies Leben. Zunehmend wird klar, dass Frauen und Männer an getrennten Standorten leben sollten. 2013 fügen sich die Anliegen der beiden Paare wie zwei Puzzleteile zusammen. Wehners sind bereit, ihre Talente, Zeit und Liebe für Frauen in herausfordernden Lebenssituationen einzubringen, die Stiftung würde die Finanzierung übernehmen. «Wir beteten ein Jahr lang gemeinsam dafür, dass Gott uns ein passendes Haus zeigt», erinnert sich Stephan. Damals ist Töchterchen Avital ein Jahr alt und Wehners wohnen in einer wunderschönen, familienfreundlichen Umgebung.
Vernunft versus Vertrauen
Als sie in Erlenbach ein heruntergekommenes Hotel mit Restaurant und Kegelbahn besichtigen, das direkt an der Hauptstrasse liegt, sträubt sich alles im jungen Vater. Doch die Liegenschaft steht zu einem günstigen Preis zum Verkauf. «Paul Stettler sah das Potenzial, ich nur die Mängel und Schäden ...», bekennt Stephan. Zwei Stimmen kämpfen in seiner Brust: seine Vernunft und sein Vertrauen in Gottes Plan. «Wir kamen überein, uns in dieser Sache von Gott führen zu lassen.» Doch vor der Versteigerung betet Stephan heimlich, dass sie überboten werden. Drei Parteien sind schliesslich anwesend, aber die beiden Bauern interessieren sich nur für die zwei Grundstücke. So bekommen Stettlers mit ihrer Stiftung den Zuschlag. «Von da an wussten wir, dass Gott uns an diesem Ort haben wollte und ich war auch bereit, diesen Weg zu gehen», sagt Stephan.
Umbau mit Freunden
Als Sohn eines Zimmermanns packt der gebürtige Bayer beim Umbau tüchtig mit an. Freunde aus seiner alten Heimat und aus der Kirche sind bei diesem Grossprojekt willkommene Helfer. In den grosszügigen Räumen im Untergeschoss entsteht das Brockenhaus, die Perlenbach Brocki. Hier können die Mitbewohnerinnen langsam wieder ins Arbeitsleben einsteigen, wenn sie sich psychisch erholt haben. Für die Familie wird eine Wohnung eingerichtet, den Frauen stehen individuell ausgestattete Zimmer des einstigen Hotels zur Verfügung. Anfang 2014 ziehen Wehners und kurz darauf die erste Frau in das grosse Gebäude ein. Es erhält den Namen «Haus Perlenbach» – aus Wertschätzung den Frauen gegenüber (Perlen) und in Anlehnung an den Ort Erlenbach.
Familiäre Atmosphäre
Die familiäre Lebensgemeinschaft bietet nun seit neun Jahren eine gute Grundlage, um die vielfältigen und vielschichtigen Probleme der Frauen zu erkennen und zu ergründen. «Wir wohnen, leben und arbeiten zusammen – da kann man sich nicht verstecken», bemerkt Renata. Sie schmunzelt und fügt an: «Wir lernen einander gut kennen». Je nach gesundheitlichem Zustand helfen die Frauen in der Brockenstube, in Garten und Haushalt oder betreuen Kinder. Das bietet ihnen eine Tagesstruktur, Selbstvertrauen und Lebensfreude können wieder wachsen. Zudem besteht die Möglichkeit, auf einem nahe gelegenen Bauernhof mitzuarbeiten. Auch ihren Glauben teilt und lebt die Gemeinschaft miteinander. «Renata und ich sind keine ausgebildeten Seelsorger, aber wir glauben daran, dass Gott die Menschen liebt und sie frei machen will», erklärt Stephan. Dabei ist sich das Leiterpaar bewusst, dass Leiden zum Leben gehört. Angestrebt wird nicht unbedingt die vollständige Genesung, sondern eine Beziehung zum Schöpfer, die ein lebenswertes Leben möglich macht.
Ein Vollzeitjob
Am Anfang arbeitet Stephan unregelmässig noch auswärts. Das führt zu manch heikler Situation. Renata erinnert sich: «Einmal ist eine Frau regelrecht ausgetickt. Ich stand da mit der kleinen Avital im Arm und konnte nur noch beten, dass sie sich wieder beruhigt.» Schliesslich entscheidet das Leiterpaar, dass Stephan seine Stelle kündigt, um ganz für die Lebensgemeinschaft da zu sein. Noch bevor die beiden Paul und Hanni Stettler davon erzählen können, schlagen diese von sich aus vor, Stephan mit demselben Pensum bei der Stiftung anzustellen. Durch Spenden, Hausräumungen, die Einnahmen des Brockenhauses sowie den Beiträgen an Kost und Logis der Mitbewohnerinnen generiert die Familie ihren Lebensunterhalt. Renata, die sich um die Buchhaltung kümmert, hält fest: «Ziel ist es, dass jedes der vier Häuser von El Rafa auf eigenen Beinen steht.»
Individuelle Begleitung und Hilfe
Seit 2020 führt die Lebensgemeinschaft zusammen mit weiteren Familien eine Hauskirche. Hier werden die Freundschaft mit Jesus und Beziehungen gepflegt. Wehners haben schon vielen Frauen in Not Hilfe, Haus und Herz geboten und dramatische Geschichten gehört. Missbrauch, Minderwert und Sucht sind nur einige der Themen im Rucksack der Frauen. Seien es jugendliche oder lebenserfahrene Frauen: Wie lang jemand bleibt, wie viel ärztliche oder medikamentöse Hilfe nötig ist, welche Lebensthemen im Moment Klärung brauchen, das wird mit jeder Frau individuell festgelegt. «Wir glauben, dass Gott Leben zum Positiven verändern will», hält Stephan fest. «Doch den Willen und Entscheid, aus der Opferrolle auszusteigen, Denk- und Verhaltensmuster zu ändern, können wir niemandem abnehmen.» Weil es für Frauen aus dem Milieu einen sehr grossen Schritt bedeutet, den Wohnort und das Arbeitsfeld zu wechseln, leben im Haus Perlenbach zurzeit vor allem Frauen, die in schwierigen Lebenssituationen wie Trennung, Scheidung oder psychischen Krisen stecken.
Suizidversuch mit 30
Stephan hat selbst eine strube Vergangenheit. In seinen wilden jungen Jahren war er Discobetreiber, liebte Alkohol und hatte viele Frauen. Seine erste Ehe ging in die Brüche und die mühsam aufgebaute Firma bankrott. An seinem 30. Geburtstag wollte er seinem Leben ein Ende setzen. Doch dann tauchten drei Männer auf, die unabhängig voneinander dieselbe Botschaft für ihn hatten und ihn auf Jesus hinwiesen. Heute ist Stephan überzeugt: «Jesus rettet, kann Leben verändern und neue Perspektiven ermöglichen. Ich habe es selbst erlebt.» Diese befreiende Botschaft und Begeisterung geben er und Renata den Mitbewohnerinnen weiter. (mf)
Datum: 13.10.2022
Autor:
Mirjam Fisch
Quelle:
HOPE-Regiozeitungen