Calvin

Unverhofft anders

Im Gedenkjahr zum 500. Geburtstag von Jean Calvin lassen sich viele Genfer überraschen. Der Reformator fasziniert säkulare Zeitgenossen durch sein Ringen um Gerechtigkeit und sozialen Ausgleich. Besonders glücklich macht dies Roland Benz.
Er und wir – heute: Roland Benz vor dem Plakat des Openair-Theaters „Calvin Genève en flammes“.
Im Gedenkjahr erhält das Bild des übermächtigen, sittenstrengen Reformators neue Konturen.
Dolce vista: Die Freizeitgesellschaft wird mit dem Mann konfrontiert, der Genf zur Welt hin öffnete.
Kreative Freundschaft: Roland Benz und Cyril Kaiser, Regisseur des Strassentheaters, das im August gespielt wird.
Thema des Monats: Calvin in der Buchhandlung Payot.
Genfer nach Calvin: Privatbanquier Ivan Pictet (links) und Regierungspräsident David Hiler.
Altes Portrait Calvins (Genfer Reformationsmuseum).
Anstössig: Die Prädestination in einer Karikatur zum Calvin-Jahr, ausgehängt an der Kirche La Fusterie in Genf.
Offener Himmel: Abendstimmung über der Rhone.
Calvins erste Aufgabe in Genf war, die Bibel zu lesen und auszulegen: Aktion vor der ‚Fusterie‘ im Herzen Genfs.

Der pensionierte Pfarrer koordiniert das Calvin-Jahr in Genf. Von heute Freitag 31. Juli bis Ende August steht ein Strassentheater im Vordergrund: „Calvin un itinéraire" (Calvin, ein Lebensweg) nimmt die Zuschauer mit ins Schaffen von Calvin und in seine Beziehungen. Sechs Schauspieler bringen an drei Schauplätzen in den engen Gassen der Genfer Altstadt Szenen zu Gehör und beziehen die Zuschauer ein.

Calvin un itinéraire

Calvin neu gelesen

Catherine Fuchs, die Tochter des Theologieprofessors Eric Fuchs, schrieb die Szenen auf Anregung von Benz. Der Theaterlehrer Cyril Kaiser, der sie inszeniert, ist nach eigenem Bekunden „gewiss kein Calvinist". Doch die Gestalt des Reformators begann ihn zu faszinieren; er las sich ein und unterhielt sich mit Fuchs senior. Als die Schauspieler probten, konnte Benz zu ihnen sprechen - und kam danach mit ihren Fragen kaum zu Rande: „Fragen nicht nur zu Calvin, sondern zum Glauben, zur Rechtfertigung im Glauben, zur Prädestination."

Draht zu Jugendlichen

Mittelschullehrer für Physik während 25 Jahren, wurde Roland Benz nach seinem späten Theologiestudium 1994 von der Eglise protestante de Genève als Jugendpfarrer berufen. Dies tat er im Kleinen, mit Musicals - und indem er Ende 2007 das europäische Taizé-Treffen mit 40'000 Teilnehmern organisierte. Im Livenet-Gespräch erzählt er lächelnd, wie er die zögerlichen Brüder aus dem Burgund, die Kirchen, den Palexpo-Chef, die SBB und Verkehrsbetriebe vom Vorhaben überzeugte.

Eglise protestante de Genève

Kopf des Kreativ-Netzwerks

Die Genfer Protestanten, die ohne Kirchensteuern auskommen müssen, dürften es als Glück angesehen haben, dass Benz, nachdem er die Pfarrer- und Diakonenschaft 2004-2007 als ‚Modérateur' geleitet hatte, pensioniert wurde - und so für weitere Grosstaten (quasi gratis) zur Verfügung stand. Er wurde mit der Organisation des Gedenkjahrs für den Reformator betraut, an den sich viele Genfer, stolz auf ihre kosmopolitische Stadt, nicht erinnern mögen, während dies die anderen mit höchst gemischten Gefühlen tun - oder taten.

Geschichte dem Volk präsentieren

Roland Benz, um Ideen nie verlegen, brütete mit einer Gruppe Projekte aus - und konzentrierte sich gemäss dem Wunsch der Kirchenleitung darauf, Calvin unters Volk zu bringen. „Es hat diverse Veranstaltungen, Fachkongresse und Konferenzen und einige neue Bücher gegeben - aber davon bekommt der Mann auf der Strasse wenig mit." Hoch erfreut ist Benz deshalb über die welschen Medienhäuser, die mit gehaltvollen Beilagen, Schwerpunktartikeln und Sonderheften das Calvin-Jahr 2009 einläuteten.

Calvin-Neuronen

Seine Promotoren stellten im April am ‚Salon du livre' nicht nur an die 30 neue Bücher vor, sondern auch das Computerquiz „Neurons calvinus dans votre cerveau?". Michel Kocher und Jean-Christophe Emery, die fürs welsche Radio RSR Religionssendungen erstellen, geben mit dem interaktiven Spiel Jungen die Gelegenheit, herauszufinden, ob und wie Calvin ihr Denken beeinflusst - bewusst oder unbewusst.

Neurons calvinus

Filme, Psalmengesänge...

Vorausgegangen war ein kleines Filmfestival (zweimal drei Abende) im Winter. Chöre sangen - ebenfalls an sechs Abenden - Psalmen: von den Gesängen der Reformationszeit* bis zu Kompositionen Franck Martins und zwei eigens fürs Gedenkjahr geschriebenen Kompositionen.

Calvin und der Psalter

...und ein Freilichtspektakel...

Im Juli folgte das grosse Freilichttheater „Calvin Genève en flammes", welches das Ringen des Reformators um die Stadt und ihren Kampf mit ihm in 17 Bildern zeigt. Ein hochkarätiges Ensemble entführte insgesamt etwa 20‘000 Zuschauer ins unruhige 16. Jahrhundert.

Die Idee fürs Stück hatte Roland Benz (wer sonst). Freunde rieten ihm, den bekannten Theaterautor Michel Beretti anzufragen. Der hatte schon lange etwas über Genf schreiben wollen. Beretti wünschte sich für die Umsetzung den international tätigen Regisseur François Rochaix. Und der sagte spontan zu. Für die aufwändige Produktion fand Benz schliesslich auch Sponsoren (die reichen Deutschschweizer Kirchen sind nicht unter ihnen), die einen Teil des kaum vermeidbaren Defizits tragen.

Bildergalerie „Calvin Genève en flammes"
Artikel über das Schauspiel

...mit ‚Hugenotten‘

So wurde im Gedenkjahr vor der monumental starren „Mauer der Reformatoren" Genfs Kampf mit Calvin in höchst unmittelbarer Weise, mit zahlreichen Bezügen zur heutigen Gesellschaft, erlebbar. „C'est le clou", sagt Roland Benz mit hörbarer Genugtuung - und verweist im gleichen Zug auf das „Hugenottendorf", das er ebenfalls andachte: Stände, Restaurants und Häuschen im Parc des Bastions unweit der Bühne lockten im Juli Tausende zu einem Besuch; Gruppen in historischen Uniformen paradierten, es gab eine alte Druckpresse zu bewundern - und für den Gaumen Wildschwein vom Spiess.

Intellektuelle Entdeckungsreisen

Den kreativen Genfer freut, dass der Funke auch übergesprungen ist auf Intellektuelle, die Calvin nicht kannten. Dominique Ziegler, der Sohn von Jean Ziegler, und ein Freund schrieben das Stück „Le Maître des minutes", das im Juni in Saint-Gervais gespielt wurde. „Die Autoren wussten nichts von Calvin; man kennt sie nicht als Christen." Sie seien zu ihm gekommen, erzählt Benz, und Ziegler junior habe gesagt, man habe ihm bisher vom Reformator bloss Karikaturen gezeichnet. Nun habe er in ihm einen Revolutionär entdeckt, der auf eine humane Gesellschaft abzielte und sich um die Armen kümmerte. Benz: „Viele Genfer entdecken den Reformator zum erstenmal."

Sonderausstellung im Museum

Die Medien haben den Boden bereitet; die Schauspiele (wie auch die dramatischen Cabanes in der Sonderausstellung des ehrwürdigen Musée de la Réforme bei der Kathedrale) geben nun Gelegenheit, Calvin in vielen Facetten zu erleben.

Calvin live im Reformationsmuseum

So verbleichen Klischees und Vorurteile, welche die Sicht auf den in vielen Hinsichten modernsten Reformator verstellten. Auch Calvins sprachschöpferische Leistung wird neu gewürdigt: Im Team mit Pastoren erzog er die Genfer, die ein savoyardisches Pâtois sprachen, mit seinem eleganten Französisch. Die theologischen Werke verfassten er und seine Mitstreiter nicht lateinisch, sondern in der Volkssprache, die sie so auf eine neue Ebene hoben.

Calvins Bedeutung für die französische Sprache 

Bildung: damit alle das Heil verstehen können

Im Gespräch unterstreicht Benz den volksbildnerischen Ansatz des französischen Humanisten, der im Schauspiel „Genève en flammes" einen Grundton abgibt. Die Reformation legte damit den Grund für die Überwindung der mittelalterlichen Ständeordnung.

Benz erläutert: „Mit dem Glauben entdeckt Calvin den Verfall der Kirche gegenüber den neutestamentlichen Anfängen. Darum muss man die Menschen zur Quelle zurückführen. Damit die Kirche gesunden kann, müssen alle gelehrt werden. Alle müssen Französisch lernen (bisher die Sprache des Hofs), lesen lernen, die Bibel ausgelegt und in die Hand bekommen. Der Gottesdienst hat vorrangig der Bibelauslegung zu dienen; zum Einprägen braucht man den Katechismus. Die Schule steht allen offen; die Bildung erstreckt sich bis zur Hochschule. Man muss unterrichten, schulen lehren - das ist für Calvin der einzige Damm gegen den Verfall der Kirche."

In der Mitte des 16. Jahrhunderts, als der katholische Kaiser die Protestanten bekriegte, durchlief das Projekt der Reformation eine kritische Phase; von daher lässt sich die Härte Calvins besser verstehen, der christliche Sitten im Kampf gegen jegliche „Ansteckung" durch Viren des Unglaubens und der Unmoral zu festigen suchte. Insgesamt bleibt Calvin - die Genfer dürften es  ahnen - als Wegbereiter der europäischen Moderne ein Lokalheld ausser Kategorie.

Datum: 31.07.2009
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

Werbung
Livenet Service
Werbung