«Die Arche»

«Hunger nach Liebe schmerzt am meisten»

Mittagszeit in Berlin-Hellersdorf. Über hundert Kinder im Alter von drei bis neunzehn tummeln sich im Gebäude des christlichen Jugend- und Kinderhilfswerks «Die Arche». Die meisten von ihnen bekommen dort ihre einzige warme Mahlzeit des Tages, sinnvolle Freizeitangebote - und vor allem Zuwendung.
Bernd Siggelkow
Viele Eltern
«Es gibt Kinder, die noch nie auf dem Schoss eines Erwachsenen gesessen haben und noch nie das Gefühl hatten, etwas wert zu sein.»

1995 war der Geburtstermin des Projekts «Die Arche». Mit einer Handvoll Menschen gründete Bernd Siggelkow das Werk. Dafür gab der Theologe damals eine feste Stelle auf. Was ihn dazu bewogen hat, wie die Situation der Kinder in unserer Gesellschaft heute aussieht und was jeder Einzelne gegen Armut tun kann, erzählt er in diesem Interview.

Bis Ihr Kinderprojekt «Arche» auf festen Beinen stand, vergingen ein paar Jahre. Wie haben sie in der Anfangszeit gelebt?
Bernd Siggelkow: Bis 2001 war das schon ein ziemlicher Überlebenskampf. Ich habe als Pastor gearbeitet, als Bürokaufmann, Selbstständiger und Redakteur. Dann hatten wir erstmals überhaupt kein Geld. Meine Frau musste uns mal mit zwei Mark eine Woche lang satt kriegen. Hätten wir das vorher gewusst, wären wir vermutlich gar nicht nach Berlin gekommen. Aber diese Zeit hat bewirkt, dass wir heute arme Menschen viel besser verstehen.

Begreifen die Menschen überhaupt, dass es in unseren Industrienationen Armut gibt?
Wenn Menschen hören, dass in Deutschland 2,5 Millionen Kinder in Armut leben, denken sie häufig, den Leuten ginge es immer noch gut, echte Armut fände nur in der Dritten Welt statt. Armut ist in Deutschland aber auf eine gewisse Art besonders ungerecht. Natürlich sind sehr viele Menschen in Afrika materiell noch ärmer. Aber dort gibt es nicht so sehr dieses Suggerieren von: «Das ist die Welt, die du haben könntest, wenn du sie dir leisten könntest!» Dort gibt es nicht diese Form der Ausgrenzung in der Schule, wenn ein Kind zugibt, dass es arm ist. Dass die emotionale Armut in unserem Land viel grösser ist und so eine gesunde Entwicklung für Kinder sehr viel schwieriger ist, muss erst mal in die Köpfe.

Worunter leiden arme Kinder bei uns am meisten?
Sie haben nicht dieselben Chancen wie Kinder, die im Mittelstand geboren werden. Viele dieser Kinder erleben soziale Ausgrenzung. Sie wachsen häufig in einer bildungsfernen Schicht auf. Viele Eltern sehen keine Perspektive für sich und haben deswegen häufig auch für ihre Kinder keine. Wir haben in der Arche viele Kinder, die nicht regelmässig in die Schule gehen, einen starken Leistungsabfall und dann später keine Chance auf einen Arbeitsplatz haben.

Inwieweit spielt der Glaube eine Rolle bei Ihrer Arbeit?
Nicht alle unsere Mitarbeiter sind Christen in dem Sinne, dass sie eine Entscheidung getroffen haben, bewusst mit Gott leben zu wollen, aber sehr viele. Da wir stark mit Beziehungen und Liebe arbeiten, brauchen auch wir ein Fundament für unser Leben. Wir kommen eben intensiv mit Problemen in Kontakt, da braucht man Hilfe. Für uns ist unser Glaube der Motor. Wir vermitteln den Kindern dadurch Hoffnung, die sie für ihr Leben brauchen. Ein Kind, das ohne Wertschätzung aufwächst und immer hört: «Du bist nichts und du kannst nichts», versteht schon, dass es einen Gott gibt, der es wertschätzt, egal wie viel Geld es hat. Selbst wenn es nur eine Hoffnung für das Kind ist, dass es diesen Gott gibt, hilft ihm das bereits, sein Leben positiver anzupacken - wobei natürlich nicht alle Kinder daran glauben.

Und wie reagieren Eltern von Kindern darauf, die anderen Religionen angehören?
Ein Beispiel: In Hamburg feiern wir unsere wöchentliche Kinderparty in einer evangelischen Kirche. Da kommen bis zu 180 Kinder plus Erwachsene, darunter auch muslimische Frauen, obwohl wir Lieder von Jesus singen und Inhalte der Bibel weitergeben. Sie glauben vielleicht nicht daran, aber da findet Integration statt. Das Christentum ist ja nun mal geprägt von Liebe.

Die Nächstenliebe als Grundlage einer Gesellschaft - wie beurteilen Sie in dieser Hinsicht die Situation in unserem Land?
Unsere Gesellschaft ist sehr viel egoistischer geworden. Aber wenn wir das Konzept der Nächstenliebe aufgreifen - wenn ich einen Menschen anlächele und ihm dadurch ebenfalls ein Lächeln entlocke -, dann wird sich auch die Atmosphäre in unserem Land verändern. Viele laufen aber herum wie ein Trauerkloss. Ich fahre zum Beispiel sehr ungern S-Bahn, weil sie immer so voll ist. Einmal stand ich da eingequetscht wie eine Ölsardine und alle waren stumm und steif. Da habe ich gerufen: «Ihre Fahrausweise, bitte!» - und alle haben gelacht. Das kann Nächstenliebe bewegen. Sie kann uns alle verändern, denn wenn jeder Liebe empfängt, kann er auch Liebe geben.

Wie können Christen dazu beitragen, diese Liebe weiterzugeben?
Viele unserer Kirchen stehen die meiste Zeit in der Woche leer. Warum öffnen wir sie nicht nachmittags für die Kinder, die jeden Tag daran vorbeilaufen? Auf einer Pastorenkonferenz erzählte mir ein Pastor, das wäre in seiner Gemeinde ausprobiert worden: «Wir hatten pro Tag bis zu 30 Kinder in der Kirche.» Und ich: «Toll! Was ist dann passiert?» - «Wir haben zugemacht.» - «Warum denn das?» - «Weil unseren Gemeindemitgliedern das nicht gepasst hat.» Leider sind eben auch viele Christen träge geworden. Sie setzen das, was sie selbst erlebt haben, nicht in die Tat um. Doch manchmal muss man nur kleine Schritte gehen, um etwas Grosses zu bewegen.

Die da wären?
Mit offenen Augen durch die Gesellschaft laufen. Man kann arme Kinder häufig an ihren Verhaltensweisen erkennen oder daran, dass ein Sechsjähriger schon mit einem Handy herumläuft. Arme identifizieren sich nämlich häufig nicht darüber, wer sie sind, sondern über das, was sie besitzen. Diesen Menschen können wir freundlich und fröhlich begegnen. Damit ändern wir noch nicht die finanzielle Armut, aber die emotionale.

Welche Momente haben Sie in all den Jahren besonders berührt?
Da gibt es viele. Ein kleiner Junge hat mich mal an der Kasse getroffen und gesagt: «Bernd, ich liebe dich.» Das war ein siebenjähriger Junge mit einer total überforderten Mutter, der seine Schwester, ein Baby, fast allein gross zog. Ein Junge, der nie Liebe erfahren hat, sagt so etwas zu mir. Da ist mir noch mal bewusst geworden, wie wichtig die Liebe ist. Es gibt Kinder, die noch nie auf dem Schoss eines Erwachsenen gesessen haben und noch nie das Gefühl hatten, etwas wert zu sein.

Helfen lohnt sich also, weil ...
... Kinder nicht nur ein Teil unserer Gegenwart sind, sondern unsere Zukunft! Wenn wir nicht ins sie investieren, wird nichts aus ihnen. Vor einigen Jahren kam ein Junge zu uns, der als Sechsjähriger gesehen hat, wie sein Vater seine Mutter mit Benzin übergossen und angezündet hat. Die Mutter überlebte, der Vater ist im Gefängnis. Dieser 14-jährige Junge konnte weder lesen, noch schreiben. Eine Mitarbeiterin hat dann angefangen, mit ihm in der Bibel zu lesen. Heute ist er 21 und macht sein Abitur. Man kann sich eben nicht mit der eigenen Hand am Schopf aus dem Sumpf ziehen.

Der Arche-Bauer: Bernd Siggelkow weiss, was es heisst, arm zu sein. Seine Mutter verliess die Familie, als er sechs Jahre alt war, sein Vater war hoffnungslos überschuldet und arbeitete deshalb Tag und Nacht. Die Kinder lebten bei der krebskranken Grossmutter in Hamburg St. Pauli. Bernd Siggelkows grosser Wunsch war es, Orchesterdirigent zu werden. Als er 15 Jahre alt war, erzählte ihm sein Bruder, dass die Heilsarmee kostenlos Musikunterricht anbieten würde. Der Kapellmeister nahm sich seiner an und nach einem Jahr stellte ihm der Jugendleiter eine Schlüsselfrage: «Weisst du, dass es da jemanden gibt, der dich liebt?» Die Rede war von Gott. An dem Tag entschied sich der damals 16-Jährige, Christ zu werden. Und ihm war klar: Er will anderen Kindern ersparen, was er erlebt hat.

Das Kinderprojekt: Alles begann in Siggelkows Wohnzimmer mit 20 Kindern. Die zweite Station war ein kleiner Laden. Heute kommen jeden Tag mehr als 250 Kinder in die «Arche» in Berlin-Hellersdorf und werden dort betreut. Siggelkows Familie ist mittendrin: Die kleinsten seiner sechs Kinder haben dort ihren Freundeskreis und die ältesten geben Tanzworkshops. Mittlerweile gibt es weitere Archen in Hamburg, München und Berlin-Mitte, und noch in diesem Jahr sollen weitere in Memmingen und Duisburg entstehen. Sie werden zu 95 Prozent aus Spenden finanziert. Webseite: www.kinderprojekt-arche.de

Datum: 30.03.2009
Quelle: Neues Leben

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