Das "Ohrfeigen"-Urteil des Bundesgerichts

Bundesgericht

Körperstrafen in der Kindererziehung sind ebenso verpönt wie verbreitet. Mit seinem "Ohrfeige"-Urteil hat sich das Bundesgericht einer immer wieder diskutierten Erziehungsfrage angenommen und ist dabei zu nicht ganz klaren Schlüssen gekommen. Was für die einen ein selbstverständliches Züchtigungsrecht ist, scheint anderen eine nicht tolerierbare Gewaltanwendung. Eindeutiger fällt das Urteil von zwei christlichen Familienspezialisten aus. Jede körperliche Disziplinarstrafe soll von Zärtlichkeit und Zuwendung begleitet sein, sagen sie.

Vielleicht brauche es solche gesetzliche Signale zum Thema Familiengewalt, weil in der Gesellschaft das Problem der Misshandlung von Kindern noch zunehmen dürfte. Dies glaubt der Familientherapeut Wilf Gasser aus Bern. Es gebe einen echten Erziehungsnotstand, der mit der individualistischen gesellschaftlichen Entwicklung zusammenhänge. Auch Fritz Schönholzer, Prediger und Seelsorger der Freien Evangelischen Gemeinde Murten, kennt aus seiner Beratertätigkeit die Not in vielen Familien: Alkoholisierte Väter, die im Affekt dreinschlagen, Eltern, die nie gelernt haben, Konflikte auszutragen und deshalb rasch ihre ganze Körperkraft anwendeten, Erziehende, welche die Entwicklungsstufen ihrer Kinder nicht richtig beurteilen können. Das Resultat seien scheue oder verbitterte Kinder, bei denen manche sozialen Kompetenzen zerstört würden. Schönholzer findet es auch richtig, dass das Gericht die Fälle von Familiengewalt ahnden kann. Im Extremfall müssten die Gerichte auch das Recht haben, die Kinder von den Eltern wegzunehmen. Wo Kinder misshandelt würden, bestehe ein solches Interventionsrecht der Gesellschaft.

Zum Wohl der Erziehung

Das Bundesgerichtsurteil hat viele Diskussionen ausgelöst, aber längst nicht alle Fragen beantwortet. Die Neue Zürcher Zeitung bedauerte in einem Kommentar, dass das Gericht keine Antwort gebe auf die Frage, ob die Eltern von jeder physischen Gewalt absehen müssten oder ob leichte Züchtigung noch erlaubt sein sollte. Obwohl der neueste Entscheid der obersten Schweizer Richter das Recht der Eltern zu Körperstrafen restriktiver behandelt als früher, werden doch "gelegentliche verdiente Ohrfeigen" als Erziehungsmittel noch akzeptiert. Entscheidend sei hier die Verhältnismässigkeit, sagten die Bundesrichter. Dafür gebe es in der Erziehung allerdings kaum klare Richtlinien, meint der Arzt und Familientherapeut Gasser. So könne wohl auch das Bundesgerichtsurteil zwar gewisse Signale setzen, aber nicht das Problem an der Wurzel lösen.

Den Ausweg sieht Gasser weniger im Für und Wider physischer Gewalt. Vielmehr ist für ihn die erzieherische Ausrichtung der Strafe entscheidend. Gasser: "Misshandlung beginnt dort, wo nicht mehr das Wohl oder die Erziehung des Kindes im Zentrum stehen, sondern die Eltern ihren eigenen Zorn oder Frust abreagieren." Kontrollierte Körperstrafen der Eltern könnten in bestimmten Situationen helfen, dem Kind Grenzen zu setzen. Er selber habe als Kind relativ oft Züchtigung erfahren und dadurch keinen Schaden davongetragen. Körperstrafen seien oft leichter zu ertragen als psychische Verletzungen wie Verachtung und Erniedrigung. Auch sei die Verschiedenheit der Kinder zu berücksichtigen. "Manche Kinder brauchen vielleicht mehr die klare Sprache einer Körperstrafe. Man muss dann diesen Kindern ebenso viel körperliche Zuwendung und Zärtlichkeit geben", so der Familientherapeut, der selber Vater von drei Kindern ist.

Überforderte Eltern

Für Fritz Schönholzer hängt der Sinn der Körperstrafe vor allem auch von der Entwicklungsstufe der Kinder ab. So könnte kleinen Kindern unter 6 Jahren ein angemessener Klaps auf den Hintern die Grenze zeigen. Bei 7-12 Jahre alten Kindern sei ein angemessener Schlag auf den Mund oder ein Ziehen an den Ohren nach mehrmaligem Ermahnen manchmal eine wirksame Methode. "Ab 12 Jahren würde ich aber kein Kind mehr schlagen", sagt Schönholzer.

Zunehmende Gewalt gebe es vor allem deshalb, weil die positive Erziehung fehle. Schönholzer spricht vom "emotionalen Tank" der Kinder, der nicht mehr gefüllt werde. Weil die Eltern oft selber nicht mehr aus Überforderung und Stress herauskommen, nehme die Gewalt zu. Eine Gefahr für die Erziehung sei auch ein Beziehungsdefizit in vielen Familien. Schon ein paar Freundschaften unter Erwachsenen, wo man sich aussprechen kann, könnten da helfen. Manchmal fehle den Eltern ganz einfach auch das Wissen und die Ausbildung in Erziehungsfragen, sagt Wilf Gasser. Er empfiehlt den Gang zur Erziehungsberatung – "spätestens dann, wenn Kinder bereits asoziale Elemente zeigen".

Vorteil für Christen

Das grosse Erziehungsthema, das die beiden christlichen Berater bewegt, ist jedoch die Frage der Vergebung. Ohne sie läuft in der Familie vieles in die falsche Richtung. "Für meine Frau und mich ist Erziehung ein täglicher Kampf, aber wir wollen dranbleiben. Wenn wir zu weit gegangen sind, Grenzen überschritten haben, brauchen wir Vergebung", sagt der Pfarrer von Murten. Auch Gasser unterstreicht die Bedeutung einer umfassenden Versöhnung. "Es kann bedeuten, dass sich Eltern für hilflose Erziehungsversuche entschuldigen. Gerade das ist für christliche Eltern ein zentraler, aber oft vernachlässigter Punkt", weiss Gasser. Andererseits hätten gerade Eltern, die in christlichen Kreisen verkehren, einen Vorteil, weil man sich hier besonders viel mit Beziehungs- und Erziehungsfragen auseinandersetze. Diese Kompetenz sollten sie vermehrt an die Gesellschaft weitergeben.

Diskussion zum Artikel

Datum: 26.07.2003
Quelle: idea Schweiz

Publireportage
Werbung
Livenet Service
Werbung