Interview mit Bénézet Bujo

Westliches Christentum und afrikanische Kultur

Westliches Christentum lässt sich nicht unbesehen mit der afrikanischen Lebenswelt verbinden. Der aus dem Kongo stammende Theologe, Bénézet Bujo, der in Fribourg lehrt, fordert die katholische Kirche auf, ihre Botschaft an den schwarzen Kontinent anzupassen. In der Geschichte habe Afrika „das Evangelium in einer für die abendländische Kultur durchgekauten Weise bekommen“. In seinem neuen Buch geht Bujo auf Eigenarten des afrikanischen Ehe- und Familienverständnisses ein.
Bénézet Bujo

Kipa: Seit Beginn der Evangelisierung Afrikas südlich der Sahara gehöre die Ehe zu den unbequemsten Fragen, mit denen sich die Missionare konfrontiert sahen, schreiben Sie in Ihrem Buch. Was unterscheidet das Konzept der Ehe, wie es im christlichen Westen vorherrscht, von der afrikanischen Sichtweise?
Bénézet Bujo: Bei ihrer Ankunft trafen die Missionare auf eine Ehevorstellung, die nicht den den geltenden abendländischen Normen entsprach. In Schwarzafrika wurde die Ehe nicht vor der Kirche geschlossen, dennoch geschah sie in einem religiösen Umfeld. Die afrikanische Gemeinschaft hatte ihre eigenen Normen, die die Ehe unter den Schutz Gottes und der Ahnen stellte. Die römische Konzeption hingegen sieht vor, dass das Paar erst als Mann und Frau zusammenleben, nachdem sie vor der Kirche den Bund der Ehe eingegangen sind.

Die Missionare haben gesehen, dass die Ehe in Afrika ein Ganzes ist und sich die Eheschliessung in Etappen vollzieht. Jede Etappe enthält das Ganze wie einen Kern: die erste Etappe kann nicht ohne die zweite vollzogen werden, die zweite nicht ohne die dritte, die wiederum der ersten beiden bedarf, und so fort.

Viele afrikanische Völker gehen von der grundlegenden Idee aus, dass die Ehe nicht durch einen punktuellen Vertrag geschlossen wird. Vielmehr verpflichtet sie die ganze Gemeinschaft derer, die das Paar begleiten. Nicht nur zwischen Mann und Frau wird die Verbindung eingegangen, sondern zwischen den Familien im afrikanischen Sinne des Wortes, das heisst zwischen den ganzen Clans. Die Missionare störten sich daran, dass es bei diesen Etappen einen Zeitpunkt gibt, ab dem das Paar wirklich zusammenleben darf, obwohl die Zeremonien und Verhandlungen zwischen den beiden Familien noch weitergehen.

Für die Kirche darf die Ehe erst nach den Zeremonien vollzogen werden, während für die Afrikaner die Feier fortdauert und die Hochzeit bis zum Tod weitergeht. Die Kirche und die christliche Moral beurteilen dieses Vorgehen als Konkubinat. Also können die Ehepartner keine Sakramente empfangen. Hierin hat in Afrika immer ein Problem bestanden.

Und die Polygamie und die "Ehe auf Probe"?
Ein weiteres Problem stellt die Polygamie dar: Die Kirche sieht darin Untreue, während das afrikanische Modell von Polygamie eine andere Bedeutung hat. Auch das "Levirat", die Bruderehe, ist schwierig. Eine Witwe muss den Bruder oder ein anderes Familienmitglied des toten Mannes heiraten, damit das Familiengeschlecht weitergeführt wird und sich die Familie des Verstorbenen weiter um sie kümmert. Für die Kirche ist das ein Skandal. Die "Ehe auf Probe" hingegen gibt es nicht. Sie ist ein westliches Missverständnis, das aus der beschriebenen, schrittweisen Eheschliessungspraxis herrührt, die auf dem afrikanischen Familienverständnis basiert.

Die afrikanische Familie besteht aus drei Gruppen: den Lebenden, den Toten und den Ungeborenen. Alle Teile dieser Trilogie stehen in Wechselwirkung zueinander. Die Lebenden erhalten ihre Vitalität von den Toten, die Toten die ihre von den Lebenden. Diese Interaktion schliesst auch die noch nicht Geborenen mit ein. Sie sind dazu bestimmt, die Familie weiterzuführen. Wenn die heute Lebenden unter den Toten sein werden, treten sie die Nachfolge an, führen das Leben weiter und sorgen ihrerseits für die Toten.

Aus christlicher Sicht könnte man sagen, die Ehe habe eine eschatologische Dimension, denn die Zukunft der Menschheit steht auf dem Spiel. Man kann nach dem Tod nicht glücklich sein, wenn die Menschen auf der Erde nicht glücklich sind. Es reicht nicht aus, Gott zu sehen, um glücklich zu sein. Diese Konzeption entzieht sich der westlichen Vorstellung und bereitet auch heute noch Schwierigkeiten.

Den Afrikanern wurde also der Katechismus gelehrt, aber man hat sie nicht wirklich evangelisiert?
Es ist eher so, dass die Inkulturation als solche nicht stattgefunden hat. Es könnte auch ein afrikanisches Modell der Ehe geben, das christlich und trotzdem nicht westlich ist. Denn in der Tat gibt es ein westliches Christentum und ein afrikanisches. Man muss sich die Aussage Paul VI. bei seinem ersten Afrikabesuch, an einem Symposium der Bischöfe von Afrika und Madagascar, in Kerala ins Gedächtnis rufen: "Ihr Afrikaner habt das Recht, das afrikanische Christentum zu leben; ihr seid selbst eure Missionare".

Das Christentum, das wir leben, ist eine Auslegung des Evangeliums nach der jeweiligen Kultur. Das Abendland hat seine Kultur so interpretiert, dass europäische Christen das Evangelium leben können. Afrika hingegen hat das Evangelium in einer für die abendländische Kultur durchgekauten Weise bekommen. Was den unter den Missionaren verbreiteten Ethnozentrismus betrifft, so gab es aber auch Ausnahmen: Einige Missionare haben sich um das Verständnis der afrikanischen Kultur bemüht, so der flämische Franziskanermissionar Placide Tempels mit seinem vielbeachteten Buch über die Bantu-Philosophie. Tempels wurde sogar aus dem Kongo ausgewiesen, weil seine Sicht einer wahren Kulturrevolution gleichkam.

Er hatte erkannt, dass man jenseits der Realität predigte, und begann die afrikanische Kultur zu studieren, nicht vom Schreibtisch aus, sondern vor Ort und in der Sprache der Menschen. Er kam zu dem Schluss, dass für die Afrikaner das Handeln im Leben das wichtigste ist, was er "vitale Kraft" nannte. Sein Konzept verweist auf die Interaktion zwischen Individuum und Gemeinschaft: Das Handeln des Individuums ist lebensnotwendig für die Gemeinschaft und vice-versa.

Das heisst, viele Missionare haben ihr westliches Denken weitergegeben, ohne sich anzupassen und ohne Interesse für die afrikanische Kultur?
Sie hatten die abendländische Theologie gelernt, deren universelle Dimension man ihnen versichert hat. Aber die afrikanische Realität ist oft näher an der jüdischen, an der Bibel, als die westliche Realität. Die westliche Exegese zum Beispiel verkürzt manchmal die Realität, geht an ihr vorbei und führt in eine Sackgasse. Wenn man im Westen von Familie spricht, meint man Vater, Mutter, Kind. Diese Kleinfamilie existiert für einen Afrikaner nicht.

Wenn ich sage "mein Sohn", bedeutet das nicht zwingend, dass ich sein biologischer Vater bin, dennoch bin ich ein Elternteil. Wenn man von den Brüdern Jesu spricht, ruft das bei Afrikanern, anders als im Westen, nicht die Frage hervor, ob Maria noch weitere Kinder hatte. Verschiedene afrikanische Sprachen kennen das Wort "Cousin" nicht, man braucht das Wort "Bruder". Hier wird deutlich, wie sehr Sprache die Kultur ausmacht – und auch die Theologie.

Gelingt es Ihnen, diesen afrikanischen Anfragen in der Kirche Gehör zu verschaffen?
Das Problem ist, dass diejenigen, die von Rom zu Bischöfen ernannt werden, oft nur noch an jene Theologie denken, die man sie im Westen gelehrt hat, und dabei übersehen, dass sie kulturell gefärbt ist. Die Theologie wird ihnen als Offenbarung präsentiert, wodurch es zur Verwechslung zwischen beiden kommt. Indem sie diese "universale" Theologie verteidigen, glauben sie, sie verteidigten das Evangelium.

Die vorherrschende theologische Ausbildung wurde nie in Frage gestellt, so dass ein afrikanischer Student nicht einmal weiss, dass es eine afrikanische Theologie gibt. Er denkt, wahre Theologie sei Thomas von Aquin, Rahner, Congar, de Lubac. Nur das ist in seinen Augen Theologie und er zieht daraus eine gewisse intellektuelle Befriedigung. Kann es eine Philosophie jenseits von Kant, Descartes, Aristoteles geben? So verbleibt man in den Denkmustern der griechisch-römischen Welt. In theologischer Hinsicht gibt die Konstitution "Sapientia Christiana" den Weg vor: alles ist abgeschlossen, innerhalb dieses Rahmens hat man zu bleiben. Viele europäische Professoren fragen sich, was aus Afrika an theologischen Impulsen kommen kann.

Was wäre Ihrer Meinung nach nötig, um einen Pluralismus der Denkansätze zu fördern?
Man müsste eine neue Theologengeneration ausbilden und ihnen die Mittel zur Publikation ihrer Forschungsergebnisse zur Verfügung stellen. Die afrikanischen Bischöfe sind finanziell abhängig und sorgen sich deshalb um die Reaktionen aus Rom. Sie fürchten finanzielle Auswirkungen auf die Seminare und Hochschulen, wenn sich nicht mehr linientreu sind.

Bénézet Bujo ist Priester stammt aus dem Nordosten der Demokratischen Republik Kongo. Er hat im Kongo und in Deutschland Philosophie und Theologie studiert. Seit 1989 ist Bujo ordentlicher Professor für Moraltheologie und Sozialethik an der Universität Freiburg (Schweiz). Er ist Autor mehrerer Werke über Thomas von Aquin, über interkulturelle Moral und über afrikanische Theologie.

Bujos jüngstes Buch ist "Plädoyer für ein neues Modell von Ehe und Sexualität. Afrikanische Anfragen an das westliche Christentum" Herder-Verlag, 2007, 259 Seiten, Fr. 46.50.

Autor: Jacques Berset
Bearbeitung: Livenet

Datum: 30.10.2007
Quelle: Kipa

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