Synergien schaffen

Die Holding Church

Die letzten Jahren haben zwei Trends im Gemeindebau gezeigt, die scheinbar entgegengesetzt verlaufen: Gemeinde wird kleiner, und Gemeinde wird grösser. Der Gemeindeforscher Reinhold Scharnowski (DAWN Europa) plädiert für eine Synthese, die beide Trends zusammenführt: Eine Gemeinde-Holding könnte verschiedenartige Gemeinden und Dienste vernetzen und Synergien schaffen.
Lebendige Vielfalt nicht nur in der Theorie zu lehren, sondern in der Praxis zu bauen ist ein Grundpostulat für Gemeinde des 21. Jahrhunderts.
Steinbogen
Kirchenbank
Postmoderne Kultur
Wohin geht die Entwicklung?
Reinhold Scharnowski

Auf der einen Seite haben wir den Trend zu Zellen oder kleinen, persönlichen und überschaubaren Hauskirchen, auf der anderen Seite die Forderung nach grossen, leistungsfähigen Gemeinden, die einen Eindruck in der Öffentlichkeit hinterlassen. Für beide Richtungen gibt es Gemeindemodelle, die sich bewährt haben und den jeweiligen Trend scheinbar bestätigen. So stehen sich denn auch Kleingemeinde- und Megachurch-Befürworter bisweilen in regelrechten Schützengräben gegenüber, und jeder benutzt die Stärken des eigenen Ansatzes, um damit auf die Schwächen der anderen Seite hinzuweisen.

Angepasst?

Bei der Diskussion von Gross- und Kleingemeinde-Vertretern geht es ja nicht allein um die Frage der Grösse und der damit verbunden Vor-und Nachteile; es werden in der Regel fundamentale Paradigmenfragen ins Feld geführt. Beide Seiten sehen sich als "der Kultur angepasstes Modell"(!). Während die einen das menschliche Bedürfnis nach Nähe, Beziehung, Haus und Familie herausstreichen, betonen die anderen den Event und die Möglichkeiten sucherorientierter Gottesdienste.

Natürlich versucht die klassische Zellgemeinde, beide Seiten zusammenzubringen; Hauskirchen-Vertreter kritisieren hier allerdings die Kontrollmechanismen, die oft zu einem zentralistischen Gebilde führen und eine echte Eigenständigkeit und Reifung der "Zellen" nicht zulassen. Ausserdem erleben so viele Leute den sonntäglichen Gottesdienst (sofern er angeboten wird) als "Gemeinde", dass man damit doch wieder bei Passivismus und dem Konsumchristentum landet, das man mit den Zellen ja aufbrechen wollte.

Was unsere Gesellschaft verlangt

Focusuisse vertritt seit Jahren den ‚Mischwald’-Ansatz: Unsere Gesellschaft verlangt eine Vielfalt von Gemeinde-Formen, damit unterschiedliche Menschen das Evangelium von Jesus aufnehmen und Christen werden. Die Frage liegt darum auf der Hand: Gibt es neue Wege, sich Gemeinde vorzustellen, die nicht auf ein Modell reduziert sind? Gäbe es Möglichkeiten, verschiedene Gemeinde-Strukturen lebendig so miteinander zu verlinken, dass sie einander dienen, statt zu einem Entweder-Oder zu werden?

Gemeinde – Missionsinstrument oder Reifungsanstalt?


Hier kommt eine Frage ins Blickfeld, die viel zu wenig diskutiert wird: Wenn wir von Gemeinde reden, reden die einen von missionarischem Engagement (und sehen die Gemeinde vor allem als evangelistisches Instrument) – die anderen sehen sie als Aufbau- und Reifeinstrument des Volkes Gottes.  Dementsprechend werden die Anforderungen ganz verschieden gesetzt. Wenn Gemeinde primär als missionarisches Werkzeug gesehen wird, muss man fast zwangsläufig Zielgruppen-Gemeinden bauen: wie z.B. Ausländer-, Studenten oder postmodern sensitive Kirchen. Denn Gemeinde muss auf Menschen zugeschnitten werden, die Gott noch nicht kennen.

Wenn anderseits Gemeinde vor allem als Ort gesehen wird, wo Christen reifen und die Werte des Reiches Gottes ausleben lernen sollen, muss man geradezu Voraussetzungen schaffen, dass sich die verschiedensten Kulturen und Gruppen begegnen und annehmen lernen.  

Pastoren vertreten in der Regel die zweite Sicht und wenden sich darum z.B. oft leidenschaftlich gegen eigene Gemeinden für junge Menschen; die christliche Reife verlange es doch, dass "alle Generationen unter einem Dach" versammelt seien (wobei mit dem Dach meistens unausgesprochen der Sonntagsgottesdienst gemeint ist). Wenn junge oder postmodern geprägte Christen dagegen eigene Gemeinden gründen wollen, dann sehen sie sie vor allem als missionarischen Vorstoss in ihre Kultur hinein – und so redet man wunderbar aneinander vorbei.

Der Spagat

Natürlich ist Gemeinde beides. Im Auftrag "macht Jünger und lehrt sie alles halten" fasst Jesus genial knapp beide Seiten zusammen. So lange unsere Kultur einigermassen christlich war, war es auch möglich, in einem Gefäss beide Aspekte unterzubringen. Die Entwicklung zur postmodern-postchristlichen Kultur hat aber den Spagat immer schwerer gemacht. Differenzierung ist nötig, wenn eine Gemeinde den Jüngerschafts-Auftrag in seinen beiden Aspekten voll ernstnehmen will.

Lebendige Steine

Eines der biotischen Prinzipien der "natürlichen Gemeindeentwicklung" ist bekanntlich die Symbiose – je mehr verschiedene Ansätze und kulturelle Gruppen in der Gemeinde vertreten sind und Platz haben, um so mehr kann echtes, vielfältiges Leben entstehen. Man befruchtet und dient einander in der Verschiedenheit aus der Liebe von Christus heraus. Wenn nicht die christliche Gemeinde Einübungsort der neuen Gesellschaft Gottes ist, was dann?

Ein Freund von mir hat Malta besucht. Auf der Insel gibt es die Überreste von etwa 400 christlichen Kirchen. Erdbeben haben sie immer wieder in Schutt und Asche gelegt. Daneben finden sich auf Malta auch Mauern heidnischer Tempel, die sage und schreibe 7000 Jahre überlebt haben. Warum wurden die Tempel so alt und die christlichen Kirchen sind immer wieder zusammengebrochen? Eine spannende Frage, wenn man "Gemeinde der Zukunft" bauen will.

Ungleiches zusammengefügt

Eine Untersuchung der Mauern zeigte: Beiden Gebäuden liegen offenbar grundsätzlich verschiedene Philosophien zugrunde. Die Kirchen wurden aus behauenen Steinen, regelmässigen Quadern, gebaut - alle mehr oder weniger gleich gross und rechteckig. Die uralten Tempel dagegen bestehen aus einem wilden Gemisch von Felsblöcken, in der alle Grössen von 1 kg bis 50 Tonnen (!) vertreten sind. Die Felsen wurden von Geröll und Einschliessungen gereinigt, ihre Form durften sie aber behalten. Ecken und Kanten wurden nicht abgeschliffen, sondern geschickt genutzt, um die Steine geradezu ineinander zu verklammern und die Stabilität zu erhöhen.

Während bei den christlichen Kirchen der grösste Teil des Bauens daraus bestand, Steine zu behauen und viele gleiche Formen herzustellen (römisches Ordnungsdenken?), bestand die Hauptarbeit beim Bau heidnischer Tempel vor allem darin, Steine in der richtigen Grösse und Form zu suchen und herauszufinden, wo sie jetzt am besten hinpassten. Diese Steine werden von den Einwohnern Maltas übrigens "pietra viva", lebendige Steine, genannt.

Auch Gemeinde-Formen sollen die Vielfalt der Kultur widerspiegeln

Lebendige Vielfalt nicht nur in der Theorie zu lehren, sondern in der Praxis zu bauen, scheint mir ein Grundpostulat für Gemeinde des 21. Jahrhunderts zu sein. Gemeinde muss auch die Vielfalt unserer Kultur widerspiegeln. Diese Vielfalt besteht nicht nur in Stilformen, sondern auch Gemeinde-Formen. Hauskirchen haben ihre Vor- und Nachteile gegenüber klassischen "congregations"; sie sind oft isoliert und könnten doch eine enorme Befruchtung darstellen.  Dazu gibt es an vielen Orten noch Werke und Dienste, die sich in Richtung Gemeinde entwickeln bzw. Gemeinde-ähnliche Funktionen übernehmen.

Wenn man all das zusammen sieht, geht die Entwicklung einerseits in Richtung Spezialisierung, andererseits sind Einheit, Konzentration der Kräfte und gegenseitige Befruchtung nötig. Das ruft geradezu nach einer Struktur, in der auf neue Weise beide Forderungen zusammen gebracht werden: möglichst viele und kreative Gemeinde-Formen zu ermöglichen und diese doch unter ein gemeinsames Dach zu bringen.

Holding it together – das gemeinsame Dach

Wie könnte eine Gemeinde aussehen, in der sich verschiedene Unter-Gemeinden zusammenschliessen, ohne dass sie (wie in der Moderne üblich) künstlich harmonisiert und über einen Leisten geschlagen werden? Beim Nachdenken darüber kam mir die Holding in den Sinn – eine Organisationsform, die in der Wirtschaft viel gebraucht wird.

Laut Wikipedia ist eine Holding oder Holdinggesellschaft „eine Gesellschaft ohne eigenen Produktionsbetrieb, die über Aktienbesitz an vielen Unternehmen beteiligt ist und für die effiziente Führung und den wirtschaftlichen Erfolg dieser Unternehmen verantwortlich ist. Die rechtliche Selbständigkeit bleibt den eingegliederten Unternehmen dabei erhalten."

Man stelle sich also eine Gruppe von (eigenständigen) Gemeinden und Werken vor, die alle in ihren Stärken und in ihrem Bereich arbeiten, die sich aber zu einer gemeinsamen Leitung zusammenschliessen. Damit wird keine neue Denomination geschaffen, sondern ein Netzwerk zum gegenseitigen Nutzen. Eine solche Gemeinde-Holding müsste auf folgenden Prinzipien aufgebaut sein:

  • Die Teilgemeinden sind und arbeiten selbständig.
  • Eine möglichst grosse Vielfalt von Strukturen sollte sich zusammenschliessen, z.B:
    • Ein Hauskirchen-Netzwerk
    • Eine normale congregation
    • Eine Jugendkirche
    • Ein Missionswerk
    • Ein Dienst in der Region.
      Diese Vielfalt dient dazu, die Stärken der einzelnen zum Ausdruck zu bringen.
  • Ein gemeinsames Wertesystem und eine Vision werden definiert – ein Boden, auf dem alle stehen.
  • Eine gemeinsame Leiterschaft dient allen, kontrolliert aber nicht.
  • Ein gemeinsamer Name kann Identität – auch nach aussen – vermitteln.
  • In regelmässigen Abständen wird eine celebration gefeiert.
  • Synergien werden erzeugt, wo möglich (gemeinsame Schulungen, Gabeneinsatz, fünffacher Dienst usw.).
     

Chancen und Vorteile eines Gemeinde-Netzwerks


1. Die Strukturdiskussion wird versachlicht
Es ist eine Tatsache, dass verschiedene Menschen zu verschiedenen Gemeinde-Formen neigen. Hauskirche ist nicht für alle Leute, aber eine zunehmende Anzahl von Christen suchen in dieser Richtung. Ein sucherorientierter Gottesdienst kann eine sehr gute Funktion ausüben, aber wenn andere Formen zur Verfügung stehen, muss man ihn nicht verabsolutieren und überfrachten. Wenn Christen sehen, dass Gemeinde in verschiedenen Strukturen möglich ist, entkrampft das die ganze Diskussion.

2. Man kann die Vorteile einer bestimmten Struktur hervorheben und ihre Nachteile minimieren
In einem solchen Gemeinde-Netzwerk kann Raum für Kinder und Jugendliche aus den Hauskirchen gefunden werden. Oder Menschen, die in einem missionarischen Werk zum Glauben kommen, können organisch andere Formen von Gemeinde kennenlernen und in die Gruppe hineinwachsen, die sie brauchen. Hauskirchen haben Freiheit, sich ihrem Charakter entsprechend zu entwickeln, sind aber nicht isoliert, sondern auch äusserlich Teil des grösseren Leibes Christi. Kurz: in einem Gemeinde-Netzwerk gilt "Synergie ja, Verschmelzung nein. Freiheit ja, Unabhängigkeit nein."

3. Evangelistische Vorstösse in verschiedene Richtungen sind möglich
Eine Jugendkirche arbeitet missionarisch in ihrer Kultur, und Hauskirchen wirken in ihren Quartieren. Der Gottesdienst für suchende Menschen ist wiederum eine andere evangelistische Form. Weitere Ergänzungen sind möglich, z.B. Ausländer-Gemeinden.

4. Verschiedene Leiter können herangebildet werden
Es gibt Leiter mit einer Berufung und Begabung für Hauskirchen, andere für einen grösseren Gottesdienst. In einem grösseren Gemeindenetzwerk mit strukturellem Pluralismus ist eine vielseitige Leiterausbildung möglich

5. Die Generationen sind im Gespräch
Junge Christen brauchen Beziehungen zu älteren – Väter und Mütter brauchen Orte, wo sie diese Elternschaft leben können. In einem grösseren Netzwerk kann die Begegnung der Generationen stattfinden, ohne dass man in Gottesdienst-Formen gezwungen wird, die einem selbst und der eigenen Kultur fremd sind.

6. Apostel, Propheten, Evangelisten, Hirten und Lehrer finden ein grösseres Wirkungsfeld
Sie sind der Gesamt-Gemeinde zum Aufbau und zur Reife gegeben (Epheser 4,11-16). Es wird für ihren Dienst bereichernd sein, wenn sie sich in verschiedenen Gefässen und Strukturen betätigen können.

7. Bestimmte Dienste können zur Gemeinde dazukommen, ohne selbst Gemeinde werden zu müssen
Es gibt heute eine Vielzahl von Initiativen, Werken und Bewegungen, die für viele Christen geistliche Heimat sind. Geschäftsleute, Sportler oder Künstler haben in solchen Werken zum Glauben gefunden. Oft finden sie den Weg in die klassischen Freikirchen nicht. Wenn ein solches Werk lokal arbeitet, könnte es Mitglied eines Gemeinde-Netzwerkes werden und sich so die Resourcen verschiedener Gemeindeformen erschliessen.

Die Trennung "church – parachurch" wird aufgehoben. In einem Netzwerk können sowohl Gemeinden als auch spezialisierte Werke und Dienste in Freiheit zusammenarbeiten und einander mit den Stärken dienen, ohne dass der eine das andere dominiert. Das ermöglicht eine enorme gegenseitige Befruchtung und Horizonterweiterung.

8. Eine gemeinsame Identität vermittelt Vertrauen nach aussen
Hauskirchen und kleine Gruppen werden oft beargwöhnt oder im Bewusstsein der Öffentlichkeit sogar in die Sektenecke geschoben, weil sie klein und "unsichtbar" sind. Ein gemeinsamer Name für ein Netzwerk sowie eine gemeinsame ‚celebration’ können diese Vorurteile zerstreuen und Vertrauen schaffen. Auch hier bietet die Holding eine grössere Identität, die der kleinen Gruppe hilfreich sein kann.

9. Ein Zeichen der Einheit wird gesetzt
Man demonstriert: Wir können zusammen arbeiten, obwohl wir sehr verschieden sind. Verschiedenheit muss nicht Trennung bedeuten, und Einheit führt nicht zu struktureller Uniformität. Diese Zeichen nach aussen und in die unsichtbare Welt hinein sind heute sehr wichtig.

10. Kräfte und Gaben werden sinnvoll eingesetzt
Hier liegt vielleicht die grösste Chance für Gemeinde-Netzwerke. Nicht jede Gruppe muss alles machen, sondern kann schlank im Rahmen ihrer Stärken arbeiten. Wenn z.B. keine Seelsorgearbeit möglich ist, kann man die in einer anderen Gruppe aus dem Netzwerk suchen. Evangelistische Anlässe, Schulungen usw. können zusammengelegt werden.

Zwei Richtungen der Entwicklung

Wenn ich mich nicht täusche, verlangt die postmoderne Kultur und die innere Entwicklung der Gemeinde nach Formen, die eine innere Verbindlichkeit mit grosser Flexibilität verbinden. Natürlich muss das Ganze "natürlich" und unverkrampft ablaufen. Es geht mir nicht darum, etwas Künstliches aus dem Boden zu stampfen, sondern eine Richtung des Wachstums aufzuzeigen. Die Entwicklung in Richtung einer Holding-Gemeinde kann auf zwei Arten geschehen:

Von aussen – Gemeinden schliessen sich zusammen

Warum muss jede Gemeinde ein volles Programm liefern? Warum kann man nicht Einzelbereiche oder gar ganze Gemeinden zusammenlegen? – Diese Frage dürfte sich in Zukunft mehr stellen, auch aus wirtschaftlichen Überlegungen. Für immer mehr Menschen wird es aber auch immer weniger nachvollziehbar sein, warum sich Gemeinden, die einander sehr ähnlich sind, nicht zu einer effizienteren Arbeitsweise zusammenschliessen. Wenn man nicht eine volle Fusion möchte (was gut überlegt sein will), bietet sich eine Holding, also ein Gemeindenetzwerk an, in dem Kräfte zusammengelegt und Unterschiede bewusst genutzt werden.

Von innen – eine Gemeinde differenziert sich

Das Umgekehrte ist auch möglich. Ich kenne grössere Gemeinden, die im Laufe der letzten Jahre eine ganze Menge von Diensten und Unterstrukturen entwickelt haben: sie haben ihre jungen Leute in eine (fast) eigenständige Jugendkirche entlassen, Ausländergruppen und andere Arbeitszweige sind entstanden, die recht eigenständig funktionieren. Eine solche Gemeinde wird früher oder später nach einer Organisationsform suchen, die die Eigenständigkeit der Untergruppen fördert und doch einen Zusammenhalt ermöglicht. Hier ergibt sich eine holding-ähnliche Struktur fast von selbst.

Datum: 29.03.2006
Autor: Reinhold Scharnowski
Quelle: Focusuisse

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