Erinnern Sie sich noch an die Zukunft?

Vielen Kindern fehlen heute Grosseltern, auf deren Schoss man beim Dämmerlicht erfuhr, wie es früher war. Das können kein Fernseher und keine Ganztagesschule ersetzen. Dass Erzählen für Kinder und ihre Sprachentwicklung wichtig ist, haben Pädagogen und andere Wissenschaftler längst erkannt. Von der mitgelieferten Wärme und Geborgenheit ganz zu schweigen. Ich bin zudem überzeugt: Auch die Omas, Opas, Mamas, Papas, Tanten und Onkel profitieren davon. Gewiss – nicht jeder hat Kinder in der Nähe, nicht jeder will seine Memoiren zwischen zwei Buchdeckel pressen.

Himmel oder Hölle

Für Jean Paul sind Erinnerungen das Paradies, für Marcel Jouhandeau die Hölle. Mancher ist froh, sich nicht mehr an früher zu erinnern, denn die alte Zeit war nicht immer die gute. Selbst wenn das bei Omas von heute die Wirtschaftswunderzeit war. Es geht ihnen so wie jenem zehnjährigen Gastschüler aus England, mit dem ich ein kleines Baby betrachtete und bemerkte: «So klein warst du auch mal!» Darauf er: «Das wollte ich vergessen.»

Wer kennt nicht Dinge im Leben, die er vergessen möchte? Von denen er sich wünscht, sie wären nie geschehen: Schmerzvolles, Fehlentscheidungen.

Die Macht der Erinnerung

Im Grunde aber hat man gar nicht die Wahl: Gewisse Erlebnisse lassen sich beim besten Willen nicht vergessen. Im Gegenteil: Sie bringen sich mit Macht in Erinnerung. Lassen Sie diese Erlebnisse ruhig kommen! Sie begegnen ihnen nicht allein. Denn wir haben den Stärkeren hinter uns. Er trägt und erträgt uns mitsamt den schönen und schweren Seiten unseres Lebens. Mit ihm können wir Unangenehmem in die Augen schauen. Vor ihm, unter Jesu Kreuz, dürfen wir es ablegen, klagen, weinen, Vergebung empfangen und weitergeben, ein Ja zu unserer Lebensgeschichte finden. Vielleicht gelingt das nicht alleine im stillen Kämmerlein. Dann scheuen Sie sich nicht, eine Person Ihres Vertrauens einzubeziehen.

«Weisst du noch?»

Aber ich bin sicher: Es gibt da viel mehr, was Sie nicht vergessen wollen. Es lohnt sich, einmal darüber nachzudenken. Vielleicht mit einem Fotoalbum oder gemeinsam mit Weggefährten. Wie köstlich ist es, mit einem «Weisst du noch?» einen ganzen Abend zu füllen. Und manchmal werden wir verblüfft sein: «Ach, so hast du das damals verstanden, erlebt, in Erinnerung behalten...» Jede Erinnerung ist subjektiv, und es erleichtert, festzustellen, dass man selbst nicht der Massstab der Welt und Vergangenheit ist. Eine andere Möglichkeit ist, heute anzufangen, Tagebuch zu schreiben, damit Sie fortan nachlesen können, was sich in Ihrem Leben ergibt.

Was hat sich bewährt?

Schon David mahnt sich und uns: «Vergiss nicht, was Gott dir Gutes getan hat» (Psalm 103). Warum? Weil es dankbar macht. Und Dankbarkeit beflügelt. Dankbare Erinnerung gibt Mut für die Zukunft, Hoffnung und Zuversicht. Sich erinnern soll nicht Leben in der Vergangenheit heissen, sondern Erlebtes fruchtbar machen für heute und morgen. Dazu können folgende Fragen hilfreich sein:

- Was hat sich bewährt?
- Wie habe ich Schwierigkeiten bewältigt, wo Gottes und Menschen Hilfe erlebt?
- Welche Ressourcen und Stärken habe ich, und wie will ich sie in Zukunft wo einbringen?

Blick auf das Ziel

Der Enkel auf dem Schoss, die Pensionierung vor Augen oder der Beginn eines neuen Jahres können Anlass sein, sich zu erinnern an gute Zeiten – und an schlechte Zeiten. Und sich zu erinnern an die Zukunft, das Ziel unseres Lebens. Von dort gewichten sich manche Erinnerung und manches Vorhaben nochmals anders: Das Wesentliche wird wesentlich. Marie Schmallenbach drückte es so aus:

Ewigkeit in die Zeit
leuchte hell hinein,
dass uns werde klein das Kleine
und das Grosse gross erscheine -
selge Ewigkeit.