«Vielleicht die besten Jahre überhaupt»

Offener Brief an Judith Giovannelli-Blocher

Sehr geehrte Frau Giovannelli-Blocher
Judith Giovannelli-Blocher, geboren 1932, aufgewachsen zusammen mit zehn Geschwistern im Pfarrhaus von Laufen am Rheinfall, Schwester des heutigen Bundesrats Christoph Blocher. Ausbildung als Sozialarbeiterin. Abteilungsleiterin der Fachhochschule für Sozialarbeit in Bern, dann freiberufliche Organisationsberaterin, Supervisorin und langjährige Leiterin von Kursen zum Thema Älterwerden. «Das Glück der späten Jahre» ist ihr drittes Buch nach «Das gefrorene Meer» (1999) und «Das ferne Paradies» (2002). Es erschien im Pendo-Verlag.

Ich besitze ein Buch mit dem Titel «Vielleicht die besten Jahre überhaupt» (Untertitel: Lebenschancen ab 40). Dieses Buch habe ich mir mit 40 gekauft. Ihr neuestes Buch hat für mich einen ebenso verheissungsvollen Titel: «Das Glück der späten Jahre» (Untertitel: Mein Plädoyer für das Alter). Vor drei Monaten, kurz vor meinem 50. Geburtstag, habe ich es gekauft und gelesen. Ich weiss, dass nun die Jugendjahre vergangen sind. Wohlweislich will ich mich mit dem, was kommt, anfreunden. Inzwischen habe ich Ihr Buch verschlungen, stellenweise meinem Ehemann vorgelesen, mit ihm diskutiert und bewegt. Im Beruf und auch durch meine Mutter und meine Schwiegermutter bin ich täglich mit alten Menschen in Kontakt. Ihr Ergehen ist mir also nicht fremd. Trotzdem hat mich Ihr Buch aufgerüttelt und mir neue Welten eröffnet.

Obwohl Sie unverhohlen von allen Schwierigkeiten des Alters schreiben, macht das Buch auch Mut fürs Alter und weckt Respekt für die Alten (ich schreibe jetzt bewusst nicht «Senioren» oder «ältere Menschen», wie das sonst üblich ist), denn nach dieser Lektüre hat man vor dem Alter keine falsche Scheu mehr. Sie zeigen sehr weise, liebevoll und erfahren auf, dass alte Menschen einen besseren Stellenwert verdienen, als er ihnen in unserer Gesellschaft gewährt wird. Ihr Buch hat mir für manche Probleme des Alters die Augen geöffnet. Es wurde mir noch nie so lebensnah vor Augen geführt, was es heisst, täglich in einer immer schnelleren Welt zu leben, in der man eigentlich nicht mehr nachkommt und doch nachkommen muss, damit man auch nur die geringsten Chancen hat, ernst genommen zu werden. Sie beschreiben anhand vieler Beispiele das Alter mit seinen ganz spezifischen Freuden und Leiden. Ich habe begriffen, dass ich es noch nicht voll begreife. Jede Ihrer Zeilen atmet Erfahrung aus. Ihre Zuneigung zum Leben und zu den Menschen ist unübersehbar. Ihr Buch ist nicht einfach ein Sachbuch – es ist ein Buch von einer menschenfreundlichen, reifen Frau. Ich gratuliere Ihnen herzlich dazu!

Ich war während der Lektüre mehr und mehr beeindruckt von Ihnen und der Lebensweisheit, die mir da entgegen kommt. Ich dachte: Diese Frau hat Boden unter den Füssen, sie hat ein Fundament und grosse Lebenserfahrung. Im letzten Kapitel, in dem Sie sehr sensibel und aufgeschlossen das Thema Tod anrühren, in dem Sie auch eindrücklich vom Glauben Ihrer Eltern berichten, wurde ich erstmals stutzig. Sie schreiben da: «Wenn ich mich auch weit entfernt habe von konkreten Glaubensgewissheiten und vielen anderen Ansichten meiner Eltern, so bleibt ihre Getrostheit auf dem Weg aus dem Leben hinaus für mich ein Vermächtnis, das ich nicht vergessen werde.» Ich bin auch der Meinung, dass man die Ansichten und Glaubensgewissheiten der Eltern nicht einfach übernehmen soll. Nur selber geprüfte und für richtig befundene Glaubensgewissheiten halten dem Leben und Sterben tatsächlich stand. Es erstaunt mich aber doch sehr, dass es Ihnen genügt, «die Getrostheit der Eltern als Vermächtnis» zu bewahren und anscheinend zu glauben, dass das am Ende Ihres eigenen Weges genügt. Oder habe ich Sie an dieser Stelle falsch verstanden? Ich hoffe, dass die Frau, die ich durch dieses Buch kennen gelernt habe, zum Thema Glauben noch mehr und Besseres und Persönlicheres zu sagen hat, als nur diese schwache Hoffnung.

Ich hoffe, dass Sie im Elternhaus Blocher, einem Pfarrhaus notabene, wirklichen, lebendigen Glauben erlebt haben. Einen Glauben, der überzeugt und von der lebendigen Gotteskraft gezeugt hat. Meine grosse Bewunderung gilt Ihnen und Ihrem neuen Buch. Doch mein Glaube stützt sich auf das wichtigste Buch überhaupt. In der Bibel, im ersten Korinther-Brief von Paulus, lese ich: «Das Wort vom Kreuz ist eine Torheit denen, die verloren gehen, uns aber ist es eine Gotteskraft.» Erleben Sie das Wort vom Kreuz auch als eine Gotteskraft? Als eine Kraft, die auch im Alter, wenn das Leben seinem Ende zuneigt, hilft? Für mich ist es eine wunderbare Kraft, um im Alltag zu bestehen. Und vor allem auch, um älter und alt zu werden.

Mit freundlichen Grüssen
Esther Reutimann

Datum: 12.03.2005
Autor: Esther Reutimann
Quelle: Chrischona Magazin

Werbung
Livenet Service
Werbung