Seelsorge

Gott schickte Engel, keine Psychiater

Die Kirche sollte sich nach Ansicht des Mainzer Psychiatrieseelsorgers Günther Emlein wieder aktiver um die Seelsorge von Menschen mit psychischen Problemen kümmern. «Viele Patienten sind auf ihre eigene Art fromm». Pfarrer seien jedoch oft nicht mehr darin geübt, richtig mit Menschen umzugehen, die über ihre psychischen Probleme sprechen wollen. Anstelle einer wirklichen seelsorgerlichen Betreuung würden die Betroffenen zu schnell an Psychologen oder Psychiater weitervermittelt.
«Pfarrer sind oft nicht mehr darin geübt, richtig mit Menschen umzugehen, die über ihre psychischen Probleme sprechen wollen», meint Günther Emlein.
Günther Emlein

Die Kirche unterschätze dabei ihr eigenes enormes Potenzial bei der Seelsorge. Viel zu häufig erkläre sie sich für nicht zuständig, während die Betroffenen dies aber oft ganz anders sähen. Seelsorger sollten daher grundsätzlich offen für die Nöte aller Menschen sein, die den Kontakt zur Kirche suchen, forderte Emlein.

«Es ist immer leichter, von einer Krankheit zu sprechen», sagte Emlein. Für einen Pfarrer sei es jedoch nicht unbedingt von Vorteil, in medizinischen Kategorien zu denken. Auch die Betroffen wollten vielfach nicht in eine «diagnostische Schublade» gesteckt werden, da sie sich selbst nicht als krank empfänden. In früheren Jahrhunderten waren Pfarrer ganz selbstverständliche Ansprechpartner für Menschen mit seelischen Problemen.

«Ich hatte einen Patienten, der hielt sich für Nietzsche», erinnert sich Günther Emlein. «Wir haben ganz exquisite Diskussionen geführt.» Am liebsten beginnt der Mainzer Psychiatrieseelsorger die Bekanntschaft mit seinen neuen Gesprächspartnern bei einem Spaziergang. Er geht dann mit ihnen raus zu den Römersteinen, den Stümpfen des antiken Aquädukts am Mainzer Stadtrand - vorausgesetzt, die Patienten dürfen das Gelände der Uniklinik verlassen. Auf die Nöte der Betroffenen gebe die moderne Psychiatrie oft keine zufriedenstellende Antwort, sagt er. Aber auch die Kirche gehe zu oft nicht angemessen mit dem Thema um.

Bibel kennt das Problem

Wer in der Bibel liest, stösst dort auf viele Gestalten, die nach heutigen Massstäben eigentlich als psychisch gestört gelten müssten: Saul, der erste König Israels, war offenkundig depressiv. Der alttestamentliche Prophet Jona war suizidgefährdet, so sehr ärgerte er sich darüber, dass Gott die Sünder von Ninive nicht bestrafen wollte. Auch Elia floh in die Wüste, um seinem Leben ein Ende zu setzen. «Damals gab es keine Psychiater», sagt Emlein, «Gott musste einen Engel zu Elia schicken.»

Der oft niedergeschlagene Kirchenreformator Martin Luther suchte das Gespräch mit seinem eigenen Beichtvater, wenn ihn eine schwermütige Stimmung überfiel. Auch in der evangelischen Kirche sei es lange selbstverständlich gewesen, dass der Pfarrer die Seelennöte der Menschen im Ort umsorgte, sagt die Kirchenhistorikerin Irene Dingel. «Das ist dann im 19. und 20. Jahrhundert abgebrochen. Die Kirche als Identifikationsfaktor verlor an Bedeutung.»

Ohne Leistungsdruck

Der Mainzer Gemeindepfarrer Stephan Müller-Kracht hat regelmässig mit Menschen zu tun, die über ihre psychischen Probleme sprechen wollen. Die Tendenz sei in letzter Zeit wieder steigend. «Wir beten häufiger gemeinsam, die Leute bitten heute wieder vermehrt um einen Segen.» Vermutlich gebe es in Kirchengemeinden mehr Menschen mit psychischen Problemen als im Bevölkerungsdurchschnitt, glaubt Müller-Kracht. Für viele sei die Kirche einer der wenigen Orte, an dem sie nicht permanent unter Leistungsdruck stünden. Manche würden sich aber wohl nur deswegen an den Pfarrer wenden, um nicht lange auf einen Psychologen-Termin zu warten: «Die stehen vor der Tür und wollen auf der Stelle ein einstündiges Gespräch haben.»

Gelassen kommunizieren

Statt sich für nicht zuständig zu erklären, sollten Pfarrer sich zuerst fragen, warum jemand sich nicht an einen Psychiater, sondern an die Kirche wende: «Man kann sich heiter und gelassen auf die Kommunikation einlassen.»

Günther Emlein arbeitet bereits seit mehr als zehn Jahren als Seelsorger an der Mainzer Uniklinik. Seiner Ansicht ist die Psychiatrie der falsche Ort für viele Patienten. «Den Menschen ist das Leben durcheinandergeraten, sie wollen reden», sagte er. «Dann erfahren sie, dass der Arzt täglich fünf Minuten für sie hat, um zu fragen, ob die Medikamente schon wirken.» Ein stationärer Aufenthalt sei nur dann sinnvoll, wenn die Betroffenen nicht mehr in der Lage seien, ihren Alltag zu bewältigen, und beispielsweise vergessen, sich mit Lebensmitteln zu versorgen.

Datum: 12.12.2009
Quelle: Epd

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