"Spiritualität" in Psychiatrie und Psychotherapie

Mit Gottes Hilfe in der Welt wieder Tritt fassen

In Psychiatrie und Psychotherapie findet "Spiritualität" wieder mehr Aufmerksamkeit und wissenschaftliches Interesse. Dies sei auch ganz normal und überfällig, findet der Langenthaler Psychiater Norbert Grossmann. Die ganze Menschheitsgeschichte spiegle unsere Sehnsucht nach Spirituellem und die Ahnung von Transzendentem.
Verbunden: René Hefti und Norbert Grossmann leiten als Chefärzte die Abteilungen für Psychosomatik und Psychiatrie der Klinik SGM in Langenthal.
Die Tagesklinik der Klinik SGM Langenthal.


Psychische Krankheit: Wie gelingt es, in der Welt wieder Tritt zu fassen?

"Psychiater haben implizit oder explizit ein Weltverständnis mit spirituellen und transzendenten Anteilen. Insofern besteht auch eine Gemeinsamkeit und teilweise Übereinstimmung christlicher Psychiater mit den weniger vom christlichen Glauben her argumentierenden Psychiatern", sagt Grossmann. Da in der Beziehung des Arztes zu seinem Patienten immer auch die Werte und Haltungen des Arztes zum Tragen kommen, müsse jeder Arzt sein eigenes Weltbild reflektieren und auf der Hut sein, dieses nicht dem Hilfesuchenden, der sich vielleicht nicht dagegen wehren kann, aufzudrängen.

Heilung durch Glauben?

Als Chefarzt des Bereichs Psychiatrie und Psychotherapie der christlichen Klinik SGM Langenthal wird Grossmann allerdings auch immer wieder mit einer Frage und Sehnsucht gläubiger Patienten konfrontiert: Heilung allein durch den Glauben und Gottes wunderbares Eingreifen. "Es gibt seelisch kranke Menschen, die sich in ihrer Not daran klammern, sie könnten und müssten allein durch den Glauben geheilt werden." Wunderheilungen seien aber allein in Gottes Souveränität, nie verfüg- und machbar und dabei immer nur Zeichen. Zudem seien auf der Erde auch Wunderheilungen immer nur Vorläufiges und nichts Endgültiges; "andernfalls wir ja jetzt schon den Himmel auf die Erde holen könnten", versucht Grossmann den Hilfesuchenden jeweils zu erklären.

…und wenn ich wieder krank werde?

Krankheit, Leiden und Tod sind immer noch und wieder da. Entscheidend sei, wie man damit umgehe und wie solche schwierigen Momente zu einer Quelle des inneren Wachstums werden könnten. Besonders herausfordernd ist für den Psychiater der Umgang mit Menschen, die sich schon einmal wie durch ein Wunder geheilt glaubten und wieder erkrankten. Wenn die Krankheit zudem noch als eine Strafe Gottes empfunden werde, könne dies quälende Zweifel auslösen.

Mehr Erkrankungen

Durch die Diskussionen um IV und Krankenversicherungen besteht heute der Eindruck, dass psychische Erkrankungen zunehmen, mehr kosten und die Gesellschaft zunehmend belasten. Grossmann bestätigt diesen Gesamteindruck. Die Zahlen für manche schwere psychische Erkrankungen wie Schizophrenie seien zwar relativ konstant. Zugenommen hätten dagegen - nicht nur vom subjektiven Eindruck her - reaktive Störungen wie posttraumatische Störungen. Eine Zunahme verzeichnen "somatoforme Störungen", psychische Erkrankungen ohne organische Befunde, die sich in körperlichen Symptomen wie Schmerz manifestieren. Überdies gibt es immer mehr affektive Krankheitsbilder wie Depressionen und Ängste, aber auch alle Formen von Essstörungen.

Komplexe Ursachen

Leben wir also in einer Burnout-Gesellschaft? Grossmann relativiert: Die Zunahme von psy-chischen Störungsbildern hat vielfältige und komplexe Gründe; sie ist möglicherweise auch auf eine zunehmende Sensibilisierung der Menschen für psychische Probleme zurückzuführen. Psychische Erkrankungen werden heute vielleicht auch eher vom Betroffenen und seiner Umgebung akzeptiert als zu früheren Zeiten, in denen psychisch Kranke in der Regel stigmatisiert waren und es "riskanter" war, psychische Probleme offen zu kommunizieren.

Prinzip der Hoffnung

Für Grossmann laufen im Menschen eine materielle und eine immaterielle Ebene zusammen. "Der Mensch ist an den Körper gebunden, aber der Körper erklärt nicht sein ganzes Menschsein." Menschen seien zudem auch Wesen mit Zielen. "Als Geschöpfe besitzen sie einen nicht in ihnen selbst liegenden Grund für ihr Sein." Hier liegt eine Wurzel der Hoffnung, die zu vermitteln von der Psychiatrie als therapeutischer Auftrag sehr ernst genommen wird. Auch nicht christlich orientierte Psychiater und Psychotherapeuten arbeiten mit ihren Patienten hoffnungsorientiert, indem sie ihnen etwa so Mut machen: "Die Nöte gehören zu einer Phase, die vorübergeht und aus der Sie eines Tages herausfinden."

Therapeutischer Ratgeber

Fromme Patienten seien zuerst ganz einfach Menschen in Not, sagt der Langenthaler Arzt. "Sie zeigen in ihren Reaktionen auf ihre Krankheit im Grunde kaum Unterschiede zu Nichtchristen." Als natürliche Reaktion versuchten auch sie zuerst, das Problem in den Griff zu bekommen. Oft setze dies dann einen Kreislauf verschiedener Verhaltens- und Erlebensmuster in Gang: Kampf, Verhandeln, Anschuldigung (Verantwortung bei anderen suchen), Resignation und Aussöhnung.

Für die Bewältigung der Schritte in diesem Prozess habe ein überzeugter Christ besonders mächtige Ressourcen, sagt Grossmann, etwa in seiner vertrauensvollen Gottesbeziehung. Auch sei die Bibel ein Buch mit vielen therapeutischen Aspekten. So schaffe sie in manchen Fällen andere Blickwinkel als unsere sonst oft einseitigen und starren Sichtweisen. "Biblische Texte handeln immer wieder von zentralen Problemen und Bedürfnissen menschlichen Lebens, in denen wir uns wieder finden und von denen wir lernen können."

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Trend zu ambulanter Psychiatrie

Auch in der Schweiz gibt es weniger klinisch-stationäre und vermehrt ambulante psychiatrische Behandlungen. Im Kanton Bern sollen stationäre Psychiatrieplätze in den Spitälern weiter abgebaut und die erforderlichen Behandlungsplätze geographisch günstiger verteilt werden. Daneben will der Kanton die Angebote der stationären psychiatrischen Behandlung besser mit vorhandenen und auszubauenden ambulanten und tagesstationären Angeboten vernetzen. Vorteil: Die Patienten werden weniger ihrem gewohnten Lebensumfeld entrissen, was die Wiedereingliederung vereinfachet. Allerdings stehen zurzeit im rehabilitativen sozialen Bereich noch zu wenig Plätze zur Verfügung. Zudem gibt es zu wenig Arbeitsplätze für seelisch angeschlagene Menschen. Diese wären aber nach Ansicht von Psychiatern besonders wichtig, um wieder Sinn und Hoffnung zu geben.

Wenig Zahlen zu psychisch Kranken in der Schweiz

Die Schweiz verfügt über relativ wenig gesicherte Daten zu psychisch Kranken. Die Zahlen ambulanter Behandlungen erhält das Bundesamt für Statistik nicht. Etwas besser ist die Situation bei den in Spitälern erhobenen Zahlen. Ein Arbeitsbericht zur Versorgung psychisch Kranker in der Schweiz vom August 2004 hält fest, dass die Zahl der Behandlungen wegen psychischer Probleme von 4,1 auf 4,5 Prozent gestiegen ist. Diese Zunahme betrifft vor allem Frauen, während bei Männern der Anteil in den untersuchten Jahren unverändert blieb. Von psychischen Störungen infolge Alkohol- und Drogenmissbrauchs sind Männer stärker betroffen, während Frauen stärker unter Depressionen, neurotischen Störungen, Belastungs- und Persönlichkeitsstörungen leiden. Die Kosten in den psychiatrischen Kliniken stiegen zwischen 1998 und 2002 um 18 Prozent auf 568 Millionen Franken.

Die Datenauswertung der Spitalaufenthalte von 2005 zeigt: Bei den 15- bis 44-jährigen Schweizern sind psychische Probleme die zweithäufigste Hospitalisierungsursache (rund 14 Prozent). Für psychische Erkrankungen fallen in den Spitälern am meisten Pflegetage an. In den psychiatrischen Kliniken liegt die durchschnittliche Aufenthaltsdauer bei 48,5 Tagen.

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Bearbeitung: Livenet.ch

Datum: 27.06.2007
Autor: Thomas Hanimann
Quelle: ideaSpektrum Schweiz

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