Gefängnisbesuch

"Ich kann die Tat nicht ungeschehen machen"

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Der evangelische Pfarrer Gerhard Ding öffnet eine Zellentür in der Mannheimer Justizvollzugsanstalt. Er ist der Seelsorger des zur Zeit mit 800 Insassen aus 60 Nationen belegten Gefängnisses. Die Begegnung mit ihnen ist für Ding oft eine Gratwanderung.

Aufschliessen, abschliessen. Und noch eine Tür. Wieder aufschliessen, wieder abschliessen. Sein ständiger Begleiter ist ein Bund mit vielen grossen Schlüsseln, so schwer, dass sie einem die Hand nach unten ziehen. Niemals darf der Mann mit dem Vollbart vergessen, eine eben geöffnete Tür wieder abzusperren. Gerhard Ding ist evangelischer Seelsorger in der Justizvollzugsanstalt Mannheim. Gerade geht er zu einem Mörder.

"Herr Pfarrer, können Sie mir eine Bibel bringen?", spricht ihn ein kräftiger, freundlich drein blickender junger Mann an. "In arabisch oder deutsch, egal." Auf einer der vier Etagen des Zellentrakts hat sich eine kleine Menschentraube um den 50-jährigen Theologen gebildet. "Haben Sie mit meiner Frau gesprochen?" will ein anderer wissen.

Rund 800 Insassen hat das Gefängnis derzeit, aus 60 Nationen. Die Begegnung mit ihnen ist für Gerhard Ding oft eine Gratwanderung. Bei vielen ist er nur der "Himmelskomiker". Schlicht "gute Fee" sein will er nicht. Es gehe nicht um falsches Mitleid, sagt er. "Die Leute hier haben Scheisse gebaut. Sie haben massiv Probleme und haben anderen massiv Probleme gemacht."

"Ich bin selbst schuld“

Mit dem Gefangenen T. zieht sich Ding in sein Büro zurück. Draussen, über dem trutzigen, verwinkelten Gebäudekomplex aus rotem Backstein streiten eilige Wolken mit einer rötlichen Herbstsonne um die Herrschaft am Himmel. Dem Naturschauspiel gönnt T. keinen Blick. Dabei ist für den 47-Jährigen das Pfarrerbüro neben der Knastkapelle der einzige Raum ohne Gitter vor dem Fenster. Und der einzige, in dem "ich nicht jedes Wort drei Mal überlegen muss". Seit März 1993 sitzt er in Haft, er hat einen Menschen getötet.

"Ich bin selbst schuld, dass ich hier bin", sagt der Mann, der meist kurz inne hält, bevor er spricht. Vier, fünf Jahre hat er gebraucht, um das so zu sehen. Irgendwann habe er sein Leben runtergeschrieben. Seit neun Jahren lese er die Bibel. "Dass hat geholfen, mich um 180 Grad zu drehen."

Den meisten im Knast geht ein solcher Wille zur Selbsterkenntnis allerdings völlig ab, stimmen Pfarrer und Häftling überein. "Manche heulen sich den Kopf raus", sagt der Gefangene T. "Zwei von drei hier sehen sich nur als Opfer. Schuld sind der böse Staat, die böse Justiz, die Frau."

Allerdings sei auch die Öffentlichkeit völlig falsch informiert. "Die denken, denen geht es doch gut da drin, und nach 15 Jahren kommt man eh raus." Bei einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe setze dann erst eine Überprüfung ein, stellt Pfarrer Ding klar. "Lebenslang heisst lebenslang."

Auf dem Weg zu einem neuen "Klienten" winkt ein Mann Mitte Zwanzig hinter einer Glastür. Unsicher huschen seine Augen umher, während er mit dürrer Stimme zu dem Pfarrer spricht. Er ist seelisch krank. Der Mann wasche sich stündlich die Finger, sei aber nicht in der Lage, seine Zelle aufzuräumen, erklärt Ding später. Die Wachmänner macht er damit verrückt, für seine Mithäftlinge ist er bestenfalls eine Witzfigur.

"Der Knast ist nur Verwahranstalt", klagt der Gefangene T. Es fehlten geeignete Therapeuten. Die wenigen Therapieplätze seien für Triebtäter reserviert, berichtet Seelsorger Ding. "Es ist doch paradox: In einer Welt der völligen Entmündigung soll der Gefangene soziale Verantwortung lernen." Klar, es gebe Leute, "die müssen drin bleiben", für immer. Aber: Zu büssen sei doch etwas anderes, als die Zeit totzuschlagen.

Dem widerspricht allerdings der Gefangene S.: "Der Knast hat mich zu einem besseren Menschen gemacht." Hier hat er den Hauptschulabschluss geschafft, Bäcker gelernt, Theater gespielt. "Überhaupt mit Menschen reden, das hat's bei mir noch nie gegeben", sagt er. Seit 1983 lebt er hinter Gittern. Auch er hat einen Menschen umgebracht, auch er sagt: "Ich war schuld." Pfarrer Ding ist sich nicht sicher, ob S. nicht zu dick aufträgt.

Selbstzweifel

Manchmal beschleichen den Seelsorger Zweifel: "Ich bin ein hilfloser Helfer, ich kann die Mauern nicht einreissen, nicht die Familie reparieren." Er könne eine Tat nicht ungeschehen machen, sagt er. Doch irgendwie lässt ihn der Knast nicht los, seit einem halben Jahr arbeitet er wieder hier. Schon vorher war er Gefängnisseelsorger, aber auch Pfarrer in Kirchengemeinden. Den "biblischen Spitzenbegriffen" - Freiheit, Gerechtigkeit, Sünde - könne er hier unmittelbarer nachspüren als sonst irgendwo.

Es ist dunkel geworden, nur noch wenige Male wird Pfarrer Ding eine Tür öffnen und wieder schliessen müssen. Bevor er in den Feierabend geht, stellt er in der Gefängniskirche noch eine Kerze auf. Ein Häftling hat ihn darum gebeten. Für seine Frau. Vor genau einem Jahr ist sie ermordet worden. Er ist der Hauptverdächtige.

Datum: 26.11.2003
Autor: Christoph Ertz
Quelle: Epd

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