Essstörung

Hilfe, mein Kind hungert sich zu Tode

Unsere Tochter Sonja ist jetzt 15 Jahre alt und besucht das Lehrerinnenseminar. Als kleines Kind war sie eher mollig und pummelig, weshalb wir sie «kleiner Teddybär» nannten. Vor einem Jahr hat Sonja das erste Mal abgenommen – sie sah wirklich gut aus. Aber seither möchte sie immer noch dünner werden. Sie ist geradezu stolz auf ihre herausstehenden Knochen und vor allem darauf, dass die Waage immer noch weniger anzeigt. Sie kocht für die ganze Familie und freut sich, wenn es den andern gut schmeckt, während sie sich jedes Gramm, das sie isst, genau überlegt. Sämtliche Kalorientabellen kennt sie auswendig. Ihre Gedanken kreisen nur noch um das Essen. Die Zeit, die nicht zum Joggen, Radfahren oder für Gymnastik benötigt wird, nutzt Sonja zum Lernen. Der längst beherrschte Stoff wird zum tausendsten Mal repetiert und hineingepaukt. Allmählich beginnen ihre Kräfte zu schwinden, aber das will sie nicht wahrhaben. Bei einer Körpergrösse von 170 cm wiegt sie nur noch 46 kg. Alle Versuche, sie zum Essen anzuhalten, haben fehlgeschlagen. Was haben wir als Eltern falsch gemacht und wie können wir unserer Tochter aus ihrer Not helfen? Dieses Verhalten, das von aussen so befremdend wirkt, ist typisch für einen Teenager, der an Magersucht leidet. Am Anfang der Sucht wird die Essensverweigerung nicht als Problem empfunden. Sonja ist stolz auf die vollbrachte Leistung, ihren Körper zu beherrschen. Dies gibt ihr das Gefühl von Disziplin und Ordnung. Bezeichnend ist die gedankliche Besessenheit vom Thema "Essen" und der ungeheure Antriebsmechanis-mus, der die Betroffene ununterbrochen in Atem hält. Es wird alles unternommen, um die Verwertung «Überschüssige» Kalorien noch zu beschleunigen und zu fördern. Typisch ist auch, dass es den Magersüchtigen Befriedigung verschafft, andere zum Essen anzuhalten, während sie selbst in eiserner Selbstbeherrschung weiterhungern. Es handelt sich dabei um ein süchtiges Fasten, eine vorsätzliche Selbstaushungerung mit einem zwanghaften Trieb zur Perfektion und Kontrolle. Der ganze Tagesablauf ist starr geregelt. Versucht jemand in diese Selbstkasteiungswelt einzudringen, bricht sofort Panik aus. Zwanghaftes Fasten Für die Eltern liegt es nahe, Ihre Tochter mit einfachen Mitteln und gutem Zureden «wieder zur Vernunft bringen» zu wollen. Aber der physische und psychische Aufwand, den die Magersüchtigen betreiben, um manchmal bis zum Tod weiter zu hungern, wird nicht verständlich, wenn man die Magersucht lediglich unter dem Aspekt einer übertriebenen Schlankheitskur betrachtet. Das Zwanghafte drückt auch aus, dass sich die Magersüchtigen auf dem Tiefpunkt der Sucht einer Fremdmacht ausgeliefert fühlen, von der sie beherrscht werden. Hinter der Magersucht steht ein Fehlverhalten, verkehrtes Denken und falsche Reaktionen. Zudem müssen Magersüchtige ganz individuell als eigenständige Persönlichkeit in ihrem speziellen soziokulturellen Umfeld betrachtet werden. Nur in vielen seelsorglichen Gesprächen mit den Betroffenen und deren Eltern können die eigentlichen Beweggründe für das Hungern ans Licht gebracht werden. Deshalb möchte ich dringend ermutigen, kompetente seelsorgerliche Hilfe zu suchen und begleitend auch ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Magersucht ist ein komplexes Problem und stellt für jeden Seelsorger eine ausgesprochene Herausforderung dar . Gottes Wort weist aber auch hier den Weg zur Befreiung aus der Knechtschaft der Sucht. Viele Ursachen Es gibt viele Faktoren, die einen Jugendlichen in die Magersucht treiben können. In der Folge möchte ich die auffälligsten kurz beschreiben. Gesellschaftliche Aspekte Es wäre zu einfach, das Problem der Magersucht nur dem modernen westlichen Schlankheitswahn zuzuschreiben. Dennoch bilden soziale und kulturelle Gegebenheiten einen günstigen Nährboden für das Gedeihen der Magersucht In unserer Überflussgesellschaft haben wir uns längst daran gewöhnt, Schlankheit mit anderen Eigenschaften wie Erfolg, Glück, Weltoffenheit und sexueller Anziehungskraft zu verbinden. Die Familie der Magersüchtigen Sehr viele Magersüchtige stammen aus äusserlich intakten Familien. Ordnung, Fleiss und Pflichterfüllung nehmen einen hohen Stellenwert ein. Innerfamiliäre Konflikte werden in einem eher kühlen Gefühlsklima und selten offen ausgetragen. Ausserdem werden Magersüchtige als Kinder oft in die unausweichliche Rolle der 100%ig Besten hinein geformt. Fast alle Magersüchtigen, die ich erlebte, standen in irgendeiner Form zwischen Vater und Mutter. Die meisten empfanden die Beziehung ihrer Eltern als unbefriedigend. Unter Umständen wird die Magersucht auch dazu benützt, sich für die elterliche Zuwendung zu rechtfertigen. Manchmal geht die Magersucht auf einen sexuellen Missbrauch oder auf Ablehnung in der Kindheit zurück. Sie kann aber auch in einem engen Zusammenhang mit dem Kampf um Autonomie stehen. Die Persönlichkeit der Magersüchtigen Das bisher Gesagte bildet den Nährboden und die günstigen «klimatischen Bedingungen» für eine Magersucht. Ausschlaggebend ist aber die Persönlichkeit der Magersüchtigen selbst. Ihre persönlichen Entscheidungen und Charakterzüge, ihre Wertvorstellungen, nach denen sie sich ausrichten, führen schliesslich dazu, dass sie magersüchtig werden. Doch auch diese Persönlichkeitsstruktur ist natürlich zu einem gewissen Teil durch die Umwelt mitgeprägt. Als Erwachsene müssen sie dennoch die Verantwortung dafür übernehmen. Der Perfektionismus Perfektionismus ist eine der Schlüsselkomponenten, die alle Essstörungen einleiten und erhalten. Alle Betroffenen versuchen in irgendeiner Form, Übermenschliches zu leisten. Sie meinen, sie müssten perfekt sein: attraktiv, schlank, sportlich, beliebt, intelligent. Fast alle Magersüchtigen sind sehr fleissig und erfolgreiche Schülerinnen und Schüler. Aber wie glänzend die Leistungen der Anorektiker auch sein mögen, sie sind doch nie wirklich mit sich zufrieden. Dieser Perfektionismus bezieht sich aber nicht nur auf messbare Leistungen, sondern auch auf Gefühle und Beziehungen. Um Fehler um jeden Preis zu vermeiden, ist ihr Verhalten überangepasst. Nichts macht mehr Angst, als normal zu sein Magersüchtige meinen, ihre Existenz dauernd durch aussergewöhnliche Leistungen rechtfertigen zu müssen. Deshalb empfinden sie es als Bedrohung, einfach «normal» zu sein. Hinter dem Streben nach Aussergewöhnlichkeit verbirgt sich die Angst, ein Niemand zu sein. In der Magersucht wird nun die ganze Angst vor der eigenen Unzulänglichkeit auf den eigenen Körper projiziert. Betroffene schilderten ihr Erleben zu Beginn der Sucht so: «Ich habe meinen Körper für plump, unsauber, anormal und die Person darin völlig unangemessen gehalten. Dementsprechend war mein Verhalten ... .» «... Die Magersucht gab mir Dinge, die ich im realen Leben vergeblich gesucht hatte. Durch die Waage fand ich endlich meine Selbstbestätigung; den Zeiger auf der Waage immer mehr sinken zu lassen, gab mir ein Gefühl von Stärke und Leistungsfähigkeit ...» «Hungern gab mir Halt und Sicherheit. Hungern half mir, meine Angst vor dem Leben zu bewältigen.» Minderwertigkeitsgefühle und eine Überlegenheitshaltung liegen dicht beieinander. Diese Ambivalenz ist typisch. Angst vor dem Erwachsenwerden In der Pubertät verselbständigt sich der Körper eines Mädchens gewissermassen und entwickelt sich zur Frau, ungeachtet dessen, ob das Mädchen den damit verbundenen neuen Anforderungen gewachsen ist oder nicht. Praktisch alle Anorektikerinnen äussern in irgendeiner Form Angst vor dem Erwachsenwerden. Sie fühlten sich auf ein Leben als eigenverantwortliche, erwachsene, partnerschaftsfähige Frau noch gar nicht vorbereitet. Mit ihrem dünnen Körper versuchen sie, sich vor hohen Erwartungen zu schützen. Ausweg aus der Sucht Der wirkliche Grund der Not
Kleiderbügel
Magersucht1
Magersucht2
Waage

Magersucht ist ein komplexes Problem, das sich hier nicht pauschal abhandeln lässt. Trotzdem seien hier einige grundsätzliche Gedanken für den Weg zur Heilung angeführt: Tatsächlich lautet der Hilferuf der Anorektiker eigentlich: «Wer bin ich?», «Was bin ich wert?» Hinter der Ich-Sucht versteckt die Sehnsucht nach Sinn, Liebe, Geborgenheit und Anerkennung. Die Magersüchtigen sind getrieben von ihrem Hunger nach Bedeutung und Wert.

Grundsätzlich hat der Mensch seinen Wert, seine Bedeutung, sein sinnerfülltes Leben durch die Loslösung von Gott und durch die Sünde verloren. (Sie sind allesamt Sünder und ermangeln des Ruhmes, den sie bei Gott haben sollten, Römer-Brief, Kapitel 3, Vers 23). Ist seither nicht die ganze Not unseres Lebens die Sorge um das eigene Ich? Erfolg, Macht, Einfluss, das soll Bedeutung und Wert vermitteln. Aus biblischer Sicht kann die Befreiung aus einer Sucht immer nur auf dem Weg des Bekennens der Schuld, der eigenen Kapitulation vor Gott geschehen. Magersüchtige müssen zuallererst zugeben, dass ihr Stolz und ihre Gier nach Macht Sünde sind. Nur so können sie echte, wirkliche Befreiung im Glauben an Jesus Christus erleben. Johannes beschreibt dies in seinem Evangelium wie folgt: «Jeder, der die Sünde tut, ist der Sünde Sklave. .. Wenn nun der Sohn euch frei machen wird, so werdet ihr wirklich frei sein» (Joh. 8,34–36).

Verkehrte Wertskala

In unserer Welt gilt eine verkehrte Wertskala: Schönheit, Intelligenz und Reichtum sind gefragt. Diese Bedürfnisse werden jedem Kind als absolut notwendig und ihre Erfüllung als erstrebenswert hingestellt. Dieses Denken führt jedoch in die Versklavung, weil der Mensch unbefriedigt bleibt. Hunger kann man stillen, Durst lässt sich löschen. Aber das Verlangen nach Selbstachtung und Geborgenheit können wir nicht selbst befriedigen.

Text gekürzt durch Jesus.ch, Antoinette Lüchinger

Autor: Dr. med. Walter Vetsch

Datum: 01.02.2003
Quelle: Ethos

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