Harmoniebedürfnis

Wie man das niedrige Stockholm-Syndrom überwindet

Der Harmonie zuliebe bleiben Dialoge in den Gemeinden an der Oberfläche. Manchmal bleibt die Faust im Sack, bis man die Gemeinde verlässt. Offene Gespräche können dagegen fruchtbaren Tiefgang ermöglichen.
Werner Stutz

Besucher christlicher Gemeinden sollen einen offeneren Umgang miteinander pflegen, sagt Werner Stutz. «Das setzt voraus, dass man den anderen Menschen nicht nur Wertschätzung entgegenbringt, sondern sie auch hat. Ich muss nicht die gleiche Meinung haben, aber Respekt und Wertschätzung im Gegenüber nicht verlieren. Wenn diese Grundhaltung da ist, dann kann man offen miteinander reden», hat der pensionierte Lehrer und frühere «TearFund»-Leiter beobachtet.

Dadurch können auch Sachen angesprochen werden, ohne zu wissen, ob das Gegenüber die gleiche Meinung hat. «Dies ohne fürchten zu müssen, dass die freundschaftliche Beziehung einen Bruch erleidet.»

Oberflächliche Themen

Diese Ermunterung zur Offenheit gründet tief. Werner Stutz: «Ich sehe, dass Aufgrund von Angst und Harmoniebedürfnis vieles nicht angesprochen wird. Und das ist schade. Fast überall habe ich gesehen, dass man nach der Predigt bei Kaffee und Kuchen zusammensitzt. Doch man getraut sich zum Beispiel nicht, über den Inhalt der Predigt zu sprechen.»

Umgehend spreche man über oberflächliche Themen. «Zwar möchte man reden, dazu sucht man aber etwas ohne Konfliktpotential. Ich bin auch für den Frieden. Doch das sollte auch gehen, wenn man Themen anspricht, bei denen man nicht gleich weiss, wie die Meinung des anderen ist.»

«Niedriges Stockholmsyndrom»

Es gehe nicht darum, Dinge zu verurteilen, betont Werner Stutz. «Als Christen sollten wir dahin wachsen, dass es möglich ist, unterschiedliche Meinungen haben zu können. Wohl jeder kennt die Situation, dass jemand etwas sagt und die andere Person ist gleich auf Zustimmung gepolt. Sie will gleich signalisieren: 'Ich bin mit Dir.'»

Werner Stutz spricht von einem niederschwelligen Stockholm-Syndrom. «Es ist dagegen eine höhere Qualität von Beziehung, wenn ich nicht gleicher Meinung sein muss.» Nicht immer brauche alles unter einen Hut gebracht zu werden. «Wichtig ist, die Wertschätzung nicht zu verlieren, auch wenn man nicht gleicher Meinung ist. Offene Dialoge können Denkanstösse sein, die man annehmen kann oder nicht. Wenn wir uns getrauen, so offen miteinander umzugehen, dann ist das ein Qualitätsbereich, eine fruchtbare Auseinandersetzung.»

Mündig

Offenheit, Transparenz und Aufrichtigkeit sollen wir mehr pflegen. «Da können wir mehr Mut entwickeln. Jesus führt in die Freiheit hinein. Wir haben die Freiheit, das Richtige und das Falsche zu tun. Als Christ ist die Freiheit ein wichtiges Thema für mich. Das hat mit Mündigkeit zu tun.»

Die Inhalte sind erst der zweite Punkt. Noch zentraler ist: «Dem anderen zumuten, dass er mich ertragen mag und beide so reden können, wie sie wirklich denken. Thema kann auch der vergangene Gottesdienst sein: 'Das habe ich nicht verstanden.' Oder: 'Damit habe ich Mühe, siehst du das auch so?' Viele gestatten sich nicht, einen kritischen Gedanken zu haben – das ist nicht gut. Denn wir sind zum Prüfen aufgefordert, auch zu Kritik.

Er wolle nicht der Kritiksucht das Wort reden, sagt Werner Stutz, aber bei unterschiedlichen Standpunkten sollten sich Christen seiner Meinung nach aussprechen und dann auf etwas einigen. «Ich sehe, dass das in vielen Gemeinden zu wenig geschieht.» Durch offene Gespräche könnten Spannungen und Differenzen im Vorfeld abgebaut werden, bevor sie überhaupt entstehen.

Datum: 13.08.2014
Autor: Daniel Gerber
Quelle: Livenet

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