Kinder sind eine grosse Chance

Unbefangen und oft auch respektlos: Kinder verdienen trotz allem Respekt und Anerkennung.
Baum klettern
McDonalds

Ein Geschenk, schlaflose Nächte, Schule, Versagen, Streit, Trotz, Zukunft, Unbefangenheit, Freude, Liebesbedürftigkeit - wenn wir an Kinder denken, fallen uns viele Begriffe ein. Manches gefährdet heute das Kindsein. Doch Kinder sind eine grosse Chance. Früher gehörten Kinder einfach zum Haus. Lange wurde die Würde des Kindes nicht wahr genommen. Heute werden Kinder oft als Spiegel der Gesellschaft gesehen.

Was bedeutet Kindsein - für mich persönlich, für das Kind aus seiner Perspektive, für solche, die mit Kindern beruflich arbeiten oder auch für solche, die Kinder gar nicht mögen? Unser ältester Sohn antwortete auf die Frage, was denn Kindsein sei, spontan: «Mehr können als Erwachsene!» (Zum Beispiel auf einen Baum steigen)

Die Vergangenheit

Beobachtung 1:
In der Vergangenheit wurde weniger von Familie oder gar einzelnen Mitgliedern solcher Familien geredet, sondern vom «Haus». Das Haus bot nicht nur Schutz vor Kälte oder äusserer Gewalt, sondern war Ort der Arbeit, der Freude, des Leides, des Lebens und des Todes. Es war Ort der Lebensgemeinschaft, und ein Teil von ihr waren neben Tanten, Knechten, Gästen usw. auch Kinder. Wieso eigentlich den Kindern einen Sonderstatus zubilligen?

Beobachtung 2:
Weder Arbeit noch Erziehung noch Glaube waren private Angelegenheit einzelner Mitglieder des Hauses. Es war klar, dass Kinder so früh als möglich in die Haushaltführung im weitesten Sinne mit hineingenommen wurden. So mussten Kinder früher auch zum Lebensunterhalt beitragen. Die Folge: Das Kind war immer auch ein kleiner Erwachsener mit allen Pflichten, die damit verbunden waren. Eine Disziplinierung (wörtlich: ein Lernen) in diese Richtung lag auf der Hand.

Beobachtung 3:
Wenn von Verwahrlosung, Unglaube und Bosheit die Rede war, dann nicht etwa nur hinsichtlich des Kindes, sondern generell hinsichtlich des «verwilderten Menschen» (u.a. August H. Francke). Kinder waren höchstens «wie ein Spiegel» (siehe Buch von D.R. Campbell), allerdings nicht nur der Eltern, sondern der Gesellschaft schlechthin.

Beobachtung 4:
Seit mindestens 400 Jahren gibt es einen unermüdlichen Einsatz von christlichen und nicht-christlichen Persönlichkeiten für Schutz, Rechte und Hochachtung des Kindes. Bereits 1629 umschrieb Comenius das Kind so: «Ein Kind ist ein teures Kleinod, ja über alles Gold hoch zu achten.» Dies mündet in die Kinderkonvention der Uno, wo Kinder-Rechte wesentlich vor Kinder-Pflichten stehen.

Deuten wir solche und ähnliche Beobachtungen, sticht ein gewaltiger Fortschritt in Richtung auf vertiefte Rechte und eine vertiefte Anerkennung der Würde des Kindes ins Auge.

Der biblische Hintergrund

Gott ist ein Gott der Geschichte. Mensch zu sein heisst, sich in diese Geschichte Gottes mit dieser Welt einzufädeln und einklinken zu dürfen. Kind zu sein heisst, Hoffnungspotenzial für die kommende Geschichte Gottes in dieser Welt zu sein. Offensichtliche Schlussfolgerung: Wir können dem Kind nicht genug Respekt und Achtung entgegenbringen. Die Würde des Kindes liegt darin, von dieser Geschichte Gottes und den dazu gehörenden Verheissungen zu hören und zum Hoffen auf den Schöpfer und Erlöser gereizt zu werden.

Die grosse Chance

Die besondere Chance für uns Eltern, Lehrer und Sozialpädagogen: Die Gnade hilft erzieherisch mit. Die Gnade spielt mit - bei uns und beim Kind. Es gibt eigentlich nur eine Frage: Wo gelingt es, Orte und Plätze zu schaffen, an denen für Kinder etwas von dieser genannten Würde und Hoheit spürbar wird, Orte also, wo es nicht um Probleme, Schwierigkeiten und Interessen der Erwachsenenwelt geht, sondern wo Kinder die «Verheissungswelt» Gottes beschnuppern können und dürfen?

Missbrauchende Liebe

Es gibt angemessene Liebe, aber es gibt auch so etwas wie eine «unangemessene Liebe» der Eltern zu ihren Kindern. In Anklang an das bereits erwähnte Buch (Kinder sind wie ein Spiegel von D. Ross Campbell) seien vier Formen missbrauchender Liebe erwähnt:
Besitzergreifende Liebe. Diese Grundhaltung des Vaters, der Lehrerin, der Oma mündet in der mehr oder weniger offenkundigen Aussage: «Dieses Kind gehört mir.» Das Kind wird zum Objekt - ich habe die Verfügungsgewalt darüber. Die Testfrage lautet: Besitze ich das Kind, oder liebe ich es?

Verführerische Liebe. Wie leicht geht es ganz unbewusst über die Lippen: «Wenn du jetzt brav bist, bekommst du diese CD-ROM.» Oder: «Wenn du jetzt nicht lieb bist, darfst du nicht mit auf den Ausflug.» Es gibt ein fatales Versprechens-Bedrohungs-Szenario, innerhalb dessen das Kind durch Verlockung oder Bedrohung abhängig gemacht wird. Die Testfrage: Verführe ich das Kind, oder liebe ich es?

Stellvertretende Liebe. Wie leicht wollen Eltern, Gosseltern und Tanten ihr eigenes Leben und ihre Träume durch das Kind verwirklicht sehen: abends unbefristet zu lesen, unbeschränkt Freundschaften leben können, zum Tennisass trainiert werden. Die Testfrage: Verwirkliche ich mich selber im Kind, oder liebe ich das Kind?

Der Rollentausch. Das Kind wird verpflichtet, die Eltern zu lieben. Im schlechten Fall muss das Kind trösten, ermutigen, Entscheidungen fällen. Es ist «Täter», die Eltern «Opfer». Die Testfrage: Liebe ich das Kind, oder muss es mich lieben?

Zusammengefasst heisst dies nichts anderes, als das Kind Einflüssen auszusetzen, die Kindsein gefährden. Eltern und andere Erziehende brauchen einander, um solch destruktiven Haltungen nicht auf den Leim zu gehen.

Wenn Kinder stören

Es scheint, dass in unserer Zeit so etwas wie ein Virus umgeht, der unter uns die Eleganz zerstört. Eleganz (lat. Auswählen) heisst nichts anderes als «Askese» oder «Verzicht». Erwachsene, die nicht elegant sind (also verzichten können), werden Kindern unablässig vermitteln: «Du störst» (je nach Situation die Befriedigung meines Bedürfnisses nach Ruhe, nach Tempo, nach Ungebundenheit, nach Planbarkeit usw.). Unelegante Erwachsene stellen eine weitere Gefährdung für Kindheit dar. Denn: Es ist sehr unangenehm, in einem Lebensgefühl aufzuwachsen, Störenfried in dieser Welt zu sein.

Kampf mit der Werbung

Davon wissen Eltern Geschichten über Geschichten zu erzählen: Es geht um den Kampf zwischen ihnen und der Werbung. Darf das Kind jetzt bei McDonalds Geburtstag feiern? Darf es diesen Computer haben? Wieso nicht jenen Game-Boy? Dazu kommt, dass die Eltern einiger Schulkameraden den Kampf schon verloren haben. Das Kind: Zerrieben zwischen den Ansprüchen der Werbung beziehungsweise der bereits unterlegenen Eltern und dem verunsicherten Willen der eigenen Eltern. Die Werbung wird sich nicht verändern - Eltern täten sich leichter. Wieso sich als Eltern darin nicht gegenseitig helfen?

Von Kindern lernen

Die Kinder locken uns zur Natürlichkeit. Das Leben in der sekundären Wirklichkeit - so das Lebensmotto des Menschen im Informationszeitalter. Kinder ebnen den Weg zurück in die primäre Wirklichkeit. Wieso nicht nach der Arbeit, an der ich zwölf Stunden weltweit vernetzt war, vielleicht nur zehn Minuten mit ungeteilter Aufmerksamkeit zuzuhören, wie der fünfjährige Sohn oder die neunjährige Tochter «seine» oder «ihre» Welt erlebt hat? Welch eine Chance, sich in die ungeschminkte primäre Welt der Kinder hineinnehmen zu lassen! Wir Väter - vielleicht auch die Mütter - müssten einander mehr davon erzählen!

Kinder sind ein Spiegel. Beim Abendessen fragt mich meine Tochter plötzlich: «Vati, wieso hast du gerade den Kopf geschüttelt?» Peinlich: Ich muss eingestehen, dass ich gerade nochmals die heikle Situation mit meiner Arbeitskollegin bedacht habe. Wenn rund ein Viertel der Säuglinge Störungen zeigen, für die keine organische Ursache vorliegt, könnte dies Anlass sein, unser individuelles und gesellschaftliches Leben zu bedenken. Kinder halten uns einen Spiegel vor. Sie hätten uns viel zu sagen. Vielleicht müssten wir etwas weniger von unserer (Erwachsenen-) Problemwelt reden, vielleicht als Eltern mehr verschworene Lerngemeinschaft werden.

Die Kinder: Kinder könnten Gabe an uns Erwachsene sein, schlicht weil sie Vorbild sind. Es ginge um ihre Frische und Unbekümmertheit, ihre Bereitschaft, sich zu verändern, ihre Teilhabe am unmittelbaren Leben, ihren Wagemut, ihr Artikulieren von Wünschen und Bedürfnissen, ihre Bereitschaft, sich einzuordnen, ihre «Gutgläubigkeit». Was, wenn wir diesbezüglich bei unseren Kindern in die Schule gingen? Vielleicht würden sie dann mehr von uns lernen!

Datum: 13.09.2003
Autor: Markus Müller
Quelle: Chrischona Magazin

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