Postmoderne

Barrieren und Brücken für das Evangelium

Wir haben gesehen, dass die postmoderne Lebensweise – ein tiefer Kulturbruch, der sich nur alle 500 Jahre ereignet – für die christliche Kirche und speziell die evangelikale Kultur, die auf der Moderne aufbaut, eine enorme Herausforderung darstellt. Eigentlich gibt es keine geschlossene postmoderne Kultur – nur eine Vielzahl von Kulturen. Aber sie haben gemeinsame Grundmerkmale, und die machen uns sehr deutlich: wir müssen massiv umdenken, fast in jeder Hinsicht. Was sind nun im einzelnen einige Barrieren für das Evangelium? Wo stossen wir an? Ich habe einige zusammengefasst – und anschliessend doppelt so viele Brücken herausgefunden, um anzudeuten: die Sache ist nicht verloren, sondern es gibt auch massiv neue Chancen! 5 Barrieren für das Evangelium 1. Der Verlust der Wahrheit im Singular
Graben
Bibel

Viele Jahrhunderte lang war die christliche Offenbarung die letzte Wahrheit, von der man ausging. Dann wurde die Offenbarung durch die wissenschaftliche Forschung ersetzt, die der Wahrheitssuche diente. Bis weit in die Moderne hinein ging man noch von einer Wahrheit aus, sei sie auch unerkennbar. Die postmoderne Kultur schliesslich geht davon aus, dass es keine Wahrheit in der Einzahl, nur in der Mehrzahl gibt – das ist die einzige absolute Wahrheit.
Wahrheit ist persönlich und lokal; der postmoderne Mensch neigt dazu, die Wahrheit der Gruppe oder seiner Gemeinschaft anzunehmen – so werden rechts- oder linksradikale Phänomene verstehbar.

2. Es gibt keine "Grosse Erzählung" mehr
Eng verbunden mit dem Verlust der Wahrheit ist der Glaube, dass es keine "Meta-Erzählung" mehr gibt – keine Grosse Geschichte, die alles umfasst und alle betrifft. Jede Kultur – auch jedes Land und Volk – hat eine solche Grosse Geschichte: meistens eine Religion oder einen Mythos. Kleinere Ausprägungen solcher Meta-Konzepte sind die vielen –ismen, die bis in die Mitte des 20.Jahrhunderts als Erklärungsmuster aufgestellt wurden: so etwa der Kommunismus oder der Kapitalismus. Das Evangelium ist natürlich eine "Grosse Erzählung" par excellence", von der her Geschichte, Leben und Erfahren gedeutet werden – history als "His Story".

Der postmoderne Mensch glaubt nicht mehr an solche übergeordneten Konzepte oder Geschichten. Für ihn gibt es viele Fragmente, eine Vielzahl von Religionen, Mythen und persönlichen Lebenskonzepten, und jeder muss die Freiheit haben, sie für sich selbst zu wählen – für sein ganzes Leben oder für verschiedene Abschnitte und Bereiche seines Lebens. Typischer Ausdruck dafür ist der LAP (Lebensabschnittspartner).
Es ist wichtig, nicht mehr auf eine Identität festlegbar zu sein, sondern die Rollen – und damit die Werte, die dahinter stehen – möglichst elegant zu wechseln. Bekanntes Beispiel dafür ist der brave, graue Bankbeamte, der am Samstagmorgen nach Zürich fährt, eine totale Mutation durchmacht und sich eine Stunde später als wilder Raver auf dem Love-Mobile bewundern lässt.

3. Der Verlust von Kategorien und Unterscheidungen
Postmodern denkende Menschen lieben keine klaren Unterscheidungen, sei es über sich oder andere. Feste oder gar ablehnende Urteile rufen negative Reaktionen hervor. Es geht gar nicht darum, zu einer festen Erkenntnis oder Überzeugung zu kommen – die könnte ja wieder trennend wirken – sondern unterwegs zu sein.

Postmodern denkende Menschen haben darum auch gar keine Probleme, die unterschiedlichsten Ideen oder Konzepte miteinander zu verbinden, wie widersprüchlich und unlogisch sie auch sein mögen. Was zählt, ist nicht Wahrheit, nicht einmal Richtigkeit, sondern der Wohlfühlfaktor. Postmoderne Menschen wollen die Freiheit, ihre eigene Moral und ihren Lebensstil offen leben und ausdrücken. Sie spüren es sehr gut und schalten innerlich sofort auf Ablehnung, wenn sie von Christen her spüren, dass sie nicht tolerant genug oder gar gegen diese Ansicht oder diesen Lebensstil sind. Sie lehnen Statements ab, die als negativ oder auch nur wertend empfunden werden. Ablehnung anderer Religionen z.B. kann eine unmittelbare innere Abwehr hervorrufen.

4. Die Krise der Kommunikation
Heben Sie schon mal eine Fernseh-Talkshow verfolgt und sich an den Kopf gegriffen, weil die Leute gar nicht mehr miteinander reden im Sinne einer Kommunikation? Als Folge der Ablehnung allgemeingültiger Wahrheit wird in der Postmoderne die Allgemeingültigkeit und damit die verlässliche Bedeutung von Worten abgelehnt. Worte bedeuten nur, was du entscheidest, dass sie bedeuten sollen. Wenn du Worte sprichst, dann kannst du nicht darauf bestehen, dass sie als das verstanden werden, was du sagen wolltest. Sie bedeuten nur, was der Empfänger hören will – selbst wenn das das genaue Gegenteil von dem ist, was du gemeint hast.

In der postmodernen Kultur werden Worte zunehmend durch Bilder, Assoziationen und Events ersetzt – sehr kreativ, aber auch eine offene Tür für alle Arten von Manipulation.

Weiter neigen postmoderne Menschen dazu, Informationen, die sie nicht verstehen können, als "Rauschen" wahrzunehmen. Eine Botschaft, die nicht in ihrer Denkweise und den ihnen vertrauten Begriffen daherkommt, nehmen sie nicht bewusst als "anders" wahr, sondern wie Rauschen im Radio: keine Information, die höchstens lästig ist. Christen müssen sich über diesen Effekt sehr klar sein.

5. Die Erosion der Autorität
Sobald eine letzte Wahrheit verschwindet, gibt es auch keine letzte Autorität mehr. Und damit "beginnt das unaufhaltsame Abgleiten nicht nur in Richtung persönliche Autonomie, sondern Anarchie – es sei denn man ist stattdessen unterwegs in Richtung Diktatur (was nichts anderes ist als eine neue Form von letzter Autorität). Dieser Prozess mag durch soziale Strukturen wie Staat oder Gesetz verlangsamt werden, aber früher oder später werden die Menschen auf Staat und Gesetz pfeifen, wenn es mit ihren persönlichen Wünschen in Konflikt gerät", stellt Rose Dowsett fest, und weiter: "was manche als ein simples philosophisches Prinzip sehen, wird unversehens ein Entwicklung von allerschwersten sozialen Konsequenzen."

6. Die Konsumkultur
Der Kunde ist die höchste Autorität, und alle Produkte müssen auf seine Bedürfnisse abgestimmt sein (was subtile und offene Manipulation nicht ausschliesst, siehe oben). "Indem ich wähle und kaufe, finde ich Sinn und werde akzeptiert. Ich kaufe, darum bin ich. Shoppen in den grossen Einkaufszentren als Einzelner, Gruppe oder Familie ist das neue, wöchentliche religiöse Erlebnis in den postmodernen Tempeln geworden" schreibt Jeff Fountain.

10 Brücken für das Evangelium

Wenn Christen sich an diesen Hindernissen festhalten und nicht weiter kommen, als den Verlust der Wahrheit und Autorität zu beklagen, laufen sie Gefahr, sich in einen rückwärtsgewandten Elfenbeinturm einzuschliessen. Was in Amerika offensiv diskutiert, im deutschsprachigen Raum aber noch kaum positiv angedacht wird: In vieler Hinsicht bedeutet postmodernes Denken und Empfinden einen radikalen Schritt vorwärts zu einer biblischeren Sicht der Wirklichkeit. Wo können wir dem postmodern denkenden Menschen begegnen? Wo sind die Brücken?

1. Die Suche nach Spiritualität
Nach dem trockenen Materialismus, der bis in die 60er Jahre unsere Gesellschaft beherrschte, ist das eine der erstaunlichsten Neu-Entdeckungen: der Mensch ist ein geistliches Wesen und hat spirituelle Bedürfnisse. Die Entwicklungen in ex-kommunistischen Ländern wie Russland oder China zeigen das überdeutlich auf. In allen westlichen Ländern ist es zunehmend einfach, mit Menschen über geistliche Fragen zu reden. Es ist zunehmend akzeptiert (ausser bei einigen Theologen), dass es eine sehr reale übernatürliche und übersinnliche Welt gibt, auch wenn diese Erkenntnis nicht mit der biblischen Realität gefüllt wird. Sehr viele postmoderne Menschen sind tendenziell geistliche Sucher. Sie suchen geistliche Führer – Männer oder Frauen, die bereit sind, mit ihnen einen Weg zu gehen, so dass sie ihre Antworten selber finden können. Sie suchen jemanden, der nicht eine absoluten Wahrheitsanspruch vor sich herträgt, sondern die Botschaft vermittelt: "ich gehe einen Weg; ich habe schon einiges entdeckt, das sich lohnt; wenn du willst, können wir ein Stück Weg zusammen gehen."

2. Das Bedürfnis nach Gemeinschaft
Der moderne Mensch ist Individualist, der postmoderne Individualist in Gemeinschaft. Neue Gruppen, Clans und säkulare Glaubensgemeinschaften entstehen ständig, definiert durch Mode, Musik und andere Ausdrucksformen. Dazuzugehören ist eins der tiefsten Bedürfnisse des postmodernen Menschen. In Kirchen zeigt sich das im Wandel von "Behave-believe-belong" zu "belong-behave-believe": man gehört dazu, verhält sich wie die Gruppe und lernt erst mit der Zeit verstehen, was die Gruppe eigentlich glaubt. "Dazugehören" ist ein Produkt von Zuwendung, Treue und Zuverlässigkeit – hier können sich christliche Gruppen, Gemeinschaften, Familien und Zellen deutlich unterscheiden und den Weg zum Herzen von Menschen finden.

3. Ein zunehmendes Umwelt-Bewusstsein
Ökologie ist für den postmodernen Menschen kein Gegensatz zu Ökonomie. Leider haben Christen die Wichtigkeit umweltbewussten Verhaltens erst seit relativ kurzer Zeit erkannt, aber hier – im Rückgriff auf die Schöpfung, von der der Weg zum Gespräch über den Schöpfer nicht mehr weit ist – liegt eine Möglichkeit, zu einem bedeutenden Sektor der postmodernen Generation einen positiven Zugang zu finden.

4. Die Suche nach Identität, Sinn und Ziel
Die Frage "wer bin ich" und "wozu bin ich da" ist in der postmodernen Generation sehr aktuell. "Einkaufen bis zum Umfallen" bringt's auf die Dauer nicht. Die unausweichliche Hohlheit vieler Lebenskonzepte wird früher oder später zu einer Tür für das Evangelium. Es muss bildlich und beispielhaft angegangen und von Christen vorgelebt werden, die eine positive, ruhige, nicht aufdringliche Identität in Christus gefunden haben.

5. Ein waches ethisches Bewusstsein
Ungerechtigkeit, Rassismus, Ausgrenzung von Minderheiten – unsere Gesellschaft ist voll von ethischen Fragestellungen und Konflikten, die Einstieg zum Gespräch sein können. Natürlich gibt es viele Antworten, und die biblische Ethik ist nicht die beliebteste und bequemste, aber es ist immerhin ein waches Bewusstsein da, dass Werte nötig sind – auch ein Vorteil gegenüber einem platten Materialismus der Moderne. Toleranz und Fairness sind auf der Werteskala ganz oben.

6. Globale Offenheit
Mobilität ist kein Problem. Man weiss, was in der Welt vorgeht. Andere Kulturen sind in – auch Christen aus anderen Kulturen können bei uns im Westen davon profitieren. Neugierde und Offenheit für anderes kann auch für das Evangelium – das ja nicht im Westen entstanden ist – offen machen. Grenzen gibt es so gut wie nicht mehr. Globale Medien wie das Internet bringen ganz neue Dimensionen der Mobilität und Information mit sich – und damit die Bereitschaft, auch Ungewöhnliches zu denken.

7. Toleranz und Unkonventionalität
Toleranz wirkt sich beim postmodernen Menschen häufig so aus, dass er durchaus bereit ist, sich mit christlichen Inhalten, wenn sie nicht fundamentalistisch kommuniziert werden, auseinanderzusetzen. Er braucht Zeit und ist nicht gern gedrängt, aber die Freiheit, sich mit allem zu beschäftigen, ist da. Er ist durchaus bereit – oft gar versessen darauf – aus modernen, auch religiösen Formen auszubrechen. Unkonventionelle Wege des Glaubens haben eine Chance.

8. Praktikabilität
Postmoderne Menschen wollen Antworten auf die realen Fragen ihres realen täglichen Lebens. Sie wollen keine grossen Thesen und Dogmen, sie wollen Ergebnisse. Christen sind herausgefordert, einen Gott zu leben, der in Ehe, Kindererziehung, Lebensstil, Finanzen und Beziehungen "funktioniert".

9. Konkretes soziales Bewusstsein
Postmoderne Menschen sind – parallel zum Konsumerismus! - sehr wohl an konkreten lokalen sozialen Problemen interessiert. Wenn wir über grosse sozio-politische Ursachen für den Hunger in der Welt reden, ist das für sie "Rauschen"; aber wenn wir Flutopfern Nahrung und Kleidung senden, respektieren sie uns als Menschen, die ein soziales Gewissen haben. Sie wollen Aktion sehen, die konkreten Nöten hilft. Das kann eine Tür öffnen für das, was wir glauben.

10. Shalom
Zusammenfassend: "Postmoderne Menschen suchen ein besseres Leben, und zwar nicht nur auf der materiellen Ebene. Sie haben alle Annehmlichkeiten eines modernen Lebensstils, aber sie suchen mehr: emotionale Geborgenheit, Glück, Friede, Freude, Liebe" (J.Fountain). Sie mögen das nicht in christlichen Begriffen ausdrücken – obwohl man oft staunt, wie nahe Schlager oder Inserate einer biblischen Terminologie kommen – aber sie suchen das, was die Bibel "Shalom" nennt und was Jesus zu geben gekommen ist.

Es gibt sicher noch mehr Anknüpfungspunkte. Entscheidend ist, dass wir eines realisieren: alte Ansätze und Methoden funktionieren nicht mehr. Reine Predigt, Kopfwissen, Dogmen, negative Urteile über andere Religionen oder Lebensstile - all das kommt nicht mehr an. Wir sind wirklich heraus - gefordert: heraus aus unseren jahrzehntelang eingeübten Phrasen und festen Antworten, dem klaren Drinnen-draussen-Denken (man denke nur an den Begriff "Aussenstehende"), Predigten von der sicheren Kanzel herab, dem evangelikalen "ich-weiss-auf-jede-Frage-eine-Antwort" – Verhalten – hin zum mehr Einlassen auf andere Menschen, echter Freundschaft, Fragen, Sachen offen lassen, aber auch überzeugt und liebevoll zu dem zu stehen, was man glaubt.

Auf der anderen Seite ist kein Mensch "nur" postmodern. Jeder Mensch hat einen "Riss in seiner Rüstung", durch den das Evangelium eindringen kann. Jeder ist auch irgendwo – zum Glück – inkonsequent.

Im nächsten Kapitel wollen wir uns mit den konkreten Fragen beschäftigen: wie müsste eine Gemeinde oder eine lokale Struktur aussehen, die für postmoderne Menschen offen ist? Und welche Wege sind hilfreich für unsere eigene evangelistische Praxis?

Datum: 03.11.2003
Autor: Reinhold Scharnowski
Quelle: Focusuisse

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