„Wir brauchen diesen Strom der Vergebung und Heilung sehr“: US-Mennonit und die Reformierten

Gewalt trennt: Zeitgenössische Darstellung der Hinrichtung von Täufern in der Limmat (16. Jahrhundert)
Thomas Gyger, Präsident der Konferenz der Schweizer Mennoniten, und Lloyd Hoover vor dem Grossmünster
Wo die Ahnen lebten: Mennonitinnen aus den USA im Zürcher Oberland
Lloyd und Elaine Hoover in Zürich
Brüder in Christus: Lloyd Hoover betet mit Setri Nyomi, Generalsekretär des Reformierten Weltbundes
Erinnerung heilen: US-Mennoniten bei der Enthüllung der Gedenktafel für die hingerichteten Täufer an der Limmat
Zum Abschluss des Begegnungstags erzählte Lawrence Hart im Grossmünster von einer dramatischen Versöhnungsfeier zwischen Weissen und Indianern in Cheyenne, Oklahoma.

Christen gehören dem einen Leib von Christus an. Mennoniten in den USA versuchen die erste Trennung in der evangelischen Kirchengeschichte (Reformierte-Täufer) aufzuarbeiten. Laut Lloyd Hoover, Bischof der Mennonitenkirche in Lancaster, Pennsylvania, sieht darin einen Weg zur Erneuerung seiner Kirche . Der Begegnungstag am 26. Juni in Zürich hat Hoover weiter ermutigt. Hier der zweite Teil des Interviews:

Livenet: Wir haben über die Folgen der Winterthurer Konferenz ‚Heile unser Land’ von Anfang Mai 2003 gesprochen, die Sie und andere Mennoniten und Amische mit reformierten Christen in der Schweiz zusammenbrachte.
Lloyd Hoover: Unter Amischen und Mennoniten habe ich erzählt, was am 3. Mai 2003 (dem Datum des Gottesdienstes im Grossmünster) auch geschah: Einer der markantesten Felsen im Osten der USA, ‚The Old Man on the Mountain’ in den Weissen Bergen von New Hampshire, fiel ins Tal.

Bedeutsam ist dies für uns, weil einige Wochen vorher ein junger Mann einem Konferenzteilnehmer eben dies prophetisch angekündigt hatte. Er sagte, dem Versöhnungsgeschehen werde eine Zersplitterung von Felsen in den Weissen Bergen von New Hampshire entsprechen.

Der Felsen mit dem Profil eines Gesichts ist eine Ikone des Staates New Hampshire; er findet sich auf den Autoschildern. An eben dem Samstag, als Pfr. Ruedi Reich im Grossmünster zu den Täufern sprach, stürzte der Felsen ins Tal. Gemäss den Medienberichten gab es keinen natürlichen Grund dafür. Der beste Aussichtspunkt auf den Felsen heisst Franconia Notch; er ist benannt nach Franconia, dem ersten Siedlungsgebiet der Täufer in Amerika.

Wenn ich dies Mennoniten und Amischen erzähle, erkennen sie Gottes Hand in diesem Versöhnungswerk und sehen, dass es auch sie in den USA angeht, dass Gott auch unter ihnen Heilung wirken will. Ströme der Heilung sollen durch die Kirche von Christus in den USA fliessen.

Die Amischen-Gemeinden in den USA scheinen auf die Leidenszeit des 16. und 17. Jahrhunderts fixiert. Sehnen sie sich nach einer Rückverbindung mit ihrer ursprünglichen Schweizer Heimat, die sie damals nicht duldete?
Ja, ich empfinde dieses Sehnen. Ich denke, jene Leidenszeit in der Schweiz ist für Amische die prägende Erfahrung ihrer ganzen Geschichte. Wenn nun der Fels in New Hampshire fällt, heisst das für sie, dass Gott ihnen in die USA gefolgt ist und ihnen hier eine neue geistliche Erfahrung schenken will.

Sie halten die geistliche Erfahrung ihrer Vorfahren in der Schweiz so hoch, dass sie sie jede Woche nacherleben. Ein Amisch-Leiter bestätigte mir dies, als er sagte: „Wir singen jeden Sonntag die Lieder der Männer, die damals in der Schweiz im Kerker sassen, und lesen die Gebete der Gefangenen.“

Das heisst: Sie sind jener Zeit immer noch verbunden als dem Moment ihrer Geschichte, da Gott ihnen begegnete. Vor diesem Hintergrund haben Winterthur und der Felssturz die Erwartung geweckt, dass Gott unter ihnen jetzt etwas tun will. Manche Amische beginnen, ganz neu mit seinem Eingreifen zu rechnen.

Die Amischen verweigern sich technischen Neuerungen und legen die Bibel gesetzlich aus. Trägt der neue Wind zu einer Befreiung bei?
Wir stehen noch ganz am Anfang. Bestimmt hat eine Gruppe von Amischen – jene Gruppe um Ben Girod, die in Winterthur zu Gast war – bereits Befreiung vom Joch der Tradition erlebt. Da fliesst neues Leben; sie erlebt Freiheit als Frucht der Vergebung.

Die meisten US-Nachfahren der Schweizer Täufer finden sich heute in Mennonitengemeinden. Wie ist da auf die Impulse vom Mai 2003 reagiert worden?
Die Mennonitenkirche hat grosses Interesse gezeigt. Ich glaube, mehr und mehr wird erkannt, dass wir Vergebung und Heilung brauchen. Wenn ich mich zu Hause ins Auto setze und eine Stunde fahre, kann ich mindestens 52 verschiedene mennonitische und andere täuferische Gruppen erreichen, die nicht miteinander verbunden sind oder gar nichts miteinander zu tun haben wollen. Sie verweigern einander das Abendmahl. Von den Spaltungen sind zahlreiche Wunden da, die nie heilen konnten. Wir brauchen als Mennonitenkirche diesen Strom der Vergebung und Heilung sehr.

Glauben Sie, dass die Bitte aus Zürich dazu beiträgt, dass Mennoniten auch untereinander vermehrt nach Versöhnung streben werden?
Das ist bereits geschehen. Verschiedene mennonitische Gruppen haben sich infolge der Winterthurer Konferenz versöhnt. Man gibt diesen Bemühungen heute Raum. Die Arbeit hat erst begonnen; ich erwarte für die nächsten Monate und Jahre Grosses.

Der Begegnungstag in Zürich war für die Mennoniten (150 nahmen teil, die Mehrheit aus den USA) sehr bedeutsam. Mehr als die Amischen nehmen Mennoniten Kirchenstrukturen wahr. Wenn die Zürcher reformierte Kirchenleitung sie einlädt und durch ihren Präsidenten die Bitte um Vergebung ausspricht, bewegt sie das sehr. Es könnte sein, dass der Begegnungstag, der 26. Juni 2004, in der Mennonitenkirche eine noch grössere Türe öffnet als Winterthur.

Was bringt Sie zu dieser Einschätzung?
Zwei Tage nach der Konferenz im Mai 2003 hielt ich mich im Mennonitischen Bildungszentrum Bienenberg bei Liestal auf. Mitten in der Nacht kam mir zur Bewusstsein, was ich an der Konferenz erlebt hatte. Ein Greis von vielleicht 80 Jahren kam zu mir mit ausgestreckten Händen und wollte mir die Hände waschen.

Wie ich Wasser über seine Hände goss, sagte mir der Übersetzer, dass er ein direkter Nachkomme von Huldrich Zwingli sei, des Reformators, der die Täufer verurteilte und ihnen den Glauben absprach. Der Mann hatte an diesem Tag Zürich besucht und erst da von der Konferenz erfahren. Er eilte zu uns. Wir wuschen einander die Hände, umarmten uns und weinten zusammen. Ich spürte, wie eine schwere Last von seinen Schultern fiel, eine Last, die seine Familie über Generationen getragen hatte. Hier fand er Vergebung und Reinigung.

Ich lag im Bett, mit dem Gesicht nach unten, und erlebte diese Stunde nochmals. Und spürte, wie die unerträgliche Last auf meinen Rücken kam, so schwer als wollte sie mich durchs Bett und durch den Fussboden hindurch drücken. Und dann war mir, als sagte der Herr, dass er diese Last der Unversöhntheit so lange getragen hat und sie mich nun für einen Moment spüren liess.

Und dann fragte er mich, ob ich die Last vergrössern oder ein Werkzeug der Versöhnung und Freisetzung sein wolle. Ich meine, dass er uns Christen alle, in jeder Familie, in jeder Gemeinde, in jedem Kirchenverband herausfordert, Vergebung fliessen zu lassen, damit diese Last abgetragen wird. Oder wollen wir noch mehr Unversöhntheit im Leib von Christus hinzufügen?

Die Erfahrung zeigt: Wir Christen haben meist so viele gute Gründe, warum wir auf unserer Position beharren, als Opfer und/oder Täter, und zum Anderen Distanz wahren. Glauben Sie, dass Gott diese Haltung wegnehmen will?
Gott hat mir durch diese Erfahrungen geholfen und mir gezeigt, worum es wirklich geht. Und ich weiss, dass er solche Erfahrungen vielen in unserer Kirche zukommen lassen will. Der Strom der Heilung soll weithin durch unsere Kirche fliessen. Wir überlegen, mit dieser Perspektive im Lancaster-Gebiet eine Heilungskonferenz durchzuführen.

Gott hat uns den Eindruck vermittelt, dass die reformierte Landeskirche in der Schweiz und ihre Leiter Schlüssel in der Hand halten. Indem sie hier für Vergebung und Versöhnung eintreten, wird die Botschaft der Vergebung dazu beitragen, dass weitere Bereiche des kirchlichen Lebens bei uns aufgeschlossen und der Heilung und Erneuerung zugänglich werden. Es wäre sehr bedeutsam, wenn einige Leiter der reformierten Landeskirchen in die USA kommen, unter uns im Lancaster-Gebiet diese versöhnliche Haltung zum Ausdruck bringen und den Wunsch nach Vergebung aussprechen würden. Dies wird wie ein Schlüssel Manches aufschliessen.

Wir sind uns bewusst, dass niemand, der heute lebt, verantwortlich ist für das, was im 16. Jahrhundert geschah. Aber indem sie um Vergebung bitten und wir Mennoniten darauf eingehen, können wir diesen hindernden Faktor beheben, damit künftige Generationen nicht mehr mit den Auswüchsen von Unversöhntheit zu kämpfen haben.

An der erwähnten Heilungskonferenz sollten auch reformierte Pfarrer aus der Schweiz teilnehmen. Sie sollten dem Pfad der Täufer in einer Weise folgen, die die Kirchenbasis angeht. Was wir hier erleben, sollte nicht nur Kirchenleiter betreffen, sondern dieser Strom der Vergebung muss in den Gemeinden und Familien aufgenommen werden.

Schweizer Reformierte halten einen Schlüssel in der Hand? Wie meinen Sie das?
Der Riss zwischen den Reformierten und den Täufern stellt die erste kirchliche Spaltung nach der Reformation dar. Im Raum der Kirche hat es seither sehr viele Spaltungen gegeben. Gott bringt uns zurück an den Anfang, um dort die Heilung zu beginnen, wo sich die erste Kluft auftat.

In diesem Sinn haben die Schweizer Reformierten einen Schlüssel in der Hand. Wenn sie mit uns in Kontakt treten und um Vergebung bitten für die erste Trennung von damals, wird das Vergebung freisetzen, die durch die Kirche hindurch fliessen kann. Diese Dynamik der Vergebung ist nicht einfach zu verstehen. Da ist Gott am Werk; auf seine Weise tut er etwas unter uns.

 

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Berichte vom Begegnungstag in Zürich:
www.livenet.ch/www/index.php/D/article/189/17183/
www.livenet.ch/www/index.php/D/article/189/17167/

Datum: 13.07.2004
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

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