Interview

Wie frei sind die Freikirchen?

Der Individualismus, der die Gesellschaft durchdringt, fordert auch die Freikirchen heraus. Livenet sprach mit Max Schläpfer, Präsident der Schweizerischen Pfingstmission und des Verbands evangelischer Freikirchen und Gemeinden VFG.
Der Erlebnishunger junger Menschen - Offenheit für den Geist? - fordert Freikirchenverantwortliche heraus.
Rechnet mit der Hilfe des Heiligen Geistes: Max Schläpfer
Vertrauen unter Freikirchenleitern: von links René Winkler (Chrischona), Max Schläpfer (SPM), Claudius Zuber (FEG) und Paul Beyeler (VFMG).
Chrischona-Männertag: Im VFG sind pietistische…
…und charismatische Freikirchen verbunden (Vineyard-Jubiläum 2006).
Im Oktober 2006 stellte der VFG (Daniel Moser, Max Schläpfer, Ines Adler, Peter Deutsch) sein Politpapier vor.
Durch klare Verkündigung des Evangeliums in die Gesellschaft hineinwirken: Max Schläpfer.
Was nehmen die jungen Christen von heute (Bild: crea auf St. Chrischona) mit…
…und was wird den Frauen und Männern von morgen weitergegeben?

Livenet: Die Freikirchen sind frei. Darauf gründet sich ihre Identität. Freiheit ist den Schweizern wichtig. Max Schläpfer, warum strömen nicht Zehntausende mehr in die Freikirchen?
Max Schläpfer: Absolute Freiheit ohne Grenzen gibt es nicht. Die Werte-Grenzen einer Freikirche sind nicht für alle attraktiv. Eine Freikirche – wie jede Familie – kann nicht leben ohne gewisse Einschränkung des Individualismus, auf den unsere Gesellschaft abgefahren ist.

Der Begriff meint ja die Freiheit von Bindungen an den Staat. Die Freikirche verfolgt ihre Ziele als privatrechtliche Organisation, als Verein. Die Freikirchen haben verschiedene Formen entwickelt, die sie als Landeskirchen nicht hätten entwickeln können.

Aber spannend ist abgesehen davon der Freiheitsbegriff. Die Bibel redet von der inneren Freiheit in Jesus. Paulus kannte diese Freiheit, auch als er in Haft sass. Frei von der Sünde: Ich anerkenne, dass ich ein Sünder bin, und werde befreit durch das, was Jesus am Kreuz getan hat. Freiheit heisst, dass ich nicht von den Machtansprüchen der Seele gesteuert werde. Jeder Christ kämpft dort, siegt und unterliegt gelegentlich auch – aber der Geist, den Gott ihm geschenkt hat, ermöglicht ihm zu siegen.

Dann ist Kirche – und Freikirche im Besonderen – dazu da, die Freiheit in Christus auch Menschen verständlich zu machen. Nun verstehen diese Menschen Freiheit für sich vielleicht ganz anders…
Lassen Sie mich einen Vergleich ziehen. Tennis ist ein phantastischer Sport. Doch Sie werden nie alle Schweizer dazu bringen, Tennis phantastisch zu finden. Manche Leute halten gar nichts von Sport, andere haben mit Ballsport nichts am Hut. Die Freikirchen tun viel für die Verkündigung. Wie viele Menschen hören – pro Person, die für die Freiheit in Jesus gewonnen wird – das Evangelium? Viele, meine ich. Ich denke an Gottesdienste, die für Gäste und suchende Menschen gestaltet werden, und an Glaubenskurse. Selbstverständlich könnten die Freikirchen auch in diesem Bereich noch mehr tun.

Ich machte die Lehre mit zwei Kollegen. Nachdem ich Christ geworden war, erzählte ich allen davon. Das Büro gab mir den Übernamen ‚Jeesie’ (das war während der Jesus People-Bewegung). Einer der beiden Lehrlinge bekehrte sich, der andere sagte mir nach eineinhalb Jahren: „Hör auf, von Jesus zu reden!“ Viele freikirchliche Christen leben die Freiheit in Christus in ihrem Umfeld und versuchen sie mitzuteilen. Einige Personen öffnen das Herz, andere lehnen es ab.

Das Leben in Freikirchen sollte freiheitlich gestaltet sein. Dann hört man, dass einige Gemeinden Männer und Frauen in den Hauszellen trennen (G12-Jüngerschaftsprogramm). Einzelne Pastoren sind autoritativ – sie haben viel zu sagen –, werden aber auch als autoritär empfunden. Stehen Pfingstgemeinden besonders in der Versuchung – gerade wenn die Freiheit im Geist als hohes Ziel vor Augen steht –, das Gemeindeleben durchgreifend zu strukturieren?
Dies betrifft das Spannungsfeld von Freiheit und Struktur. Die Bibel hat eine breite Palette von Bildern für die Gemeinde. Sie ist eine Herde mit einem Hirt – was wohl viele Schweizer als autoritär empfinden. Die Gemeinde ist eine Familie – viel freies, unstrukturiertes Leben. Die Bibel vergleicht die Kirche auch mit einer Ehe – Liebe, das Zueinander von Braut und Bräutigam steht im Vordergrund. Die Gefahr besteht, dass eine Gemeinde den einen oder anderen Aspekt überbetont. Wer einen schlecht geführten Laden antrifft, wird dazu neigen, zu sehr zu strukturieren. Dazu kommt: Eine Gemeinde von 50 Leuten kann ich viel freiheitlicher leiten als eine mit 500. Leute, die mehr Struktur wollen, gehen in die grössere Gemeinde, weil für sie in der kleineren zuviel unklar ist…

…und in grösseren Gemeinden nehmen Christen dann auch Einiges in Kauf. Im ICF Zürich etwa hat ein kleiner Kreis von Leitern allein das Sagen.
In Freikirchen wird mit den Füssen abgestimmt. Das ist entscheidend: Jeder hat die Freiheit zu gehen. Das ICF hat sich zu der von Ihnen erwähnten Leitungsstruktur entschlossen. Anderseits gibt es kongregationalistische Gemeinden, in denen die Gesamtheit der Gläubigen sogar über den Kauf neuer Stühle oder eines Autos entscheidet. Sie sind schwerfällig.

Es wird mit den Füssen abgestimmt, vor allem da, wo Christen unter verschiedenen Freikirchen eine auswählen können, wo neue gegründet werden.
Eine Bemerkung noch zu G12: Der Ansatz entstand in Lateinamerika, das ein ganz anderes Autoritäts- und Leiterverständnis hat. Wir haben bei uns in der Pfingstgemeinde Bern eine Latino-Gruppe. Als ich noch Pastor war, kam mir von ihnen eine ungewohnte Verehrung entgegen, die zu jener Kultur gehört. Das muss man berücksichtigen – und das Gute an G12 sehen: dass ich andere Menschen prägen kann und sie sich prägen lassen. Jüngerschaft ist etwas Zentrales im Leben der Gemeinde. Doch wie die Methode des Jüngerschaftstrainings, die in Lateinamerika Erfolg hat, in unsere Kultur importiert wird, müssen wir genau überlegen. Welche Formen haben wir in unserem Kulturkreis, um verbindliche Jüngerschaft zu üben?

Ich habe oft Südamerikanern die kulturellen Unterschiede zu erläutern versucht. Nicht selten sehen sie in unserem Freiheitsdrang nackte Rebellion. „Die Leute haben doch dazu nichts zu sagen“, heisst es, „die haben doch einfach dem Pastor und den Ältesten zu vertrauen, dass sie es unter Gottes Leitung richtig machen. Wieso müssen alle mitreden, wenn eine neue Kapelle für 20 Millionen gebaut werden soll?“ Da haben Latinos ein anderes Verständnis. Dagegen macht die Betonung der Gleichheit in unserer Kultur viele Gemeinden schwerfällig; Korrekturen dauern lange. Und wenn 10 Prozent in der Gemeinde als Querschläger dem Rest Schritte unmöglich machen, finde ich das nicht gut.

In manchen freikirchlichen Gemeinden gibt es einen inneren Kreis, der alles unter sich ausmacht. Jemand stösst dazu, möchte mitarbeiten, seine Gaben einbringen – nach einigen Jahren verlässt er die Gemeinde frustriert. Was sagen Sie dazu?
Grundsätzlich will eine Freikirche gabenorientiert arbeiten. Sie glaubt, dass die Menschen, die Gott ihr gibt, begabt sind und als lebendige Glieder an dem Leib eine Aufgabe haben. Davon gehen die allermeisten Freikirchen aus. Sie unterscheiden sich im Wie: Manche setzen für die Mitarbeit einen Neumitgliederkurs, einen Kurs 1, 2, 3 voraus. Das ist ihre Struktur. Wer in diese Gemeinde kommt, hat damit zu leben.

Die Erfahrung zeigt aber auch, dass es Leute gibt, die mitreden wollen in einem Bereich, der ihnen nicht zusteht. Für strategische Entscheide ist den anerkannten und autorisierten Leitern, die mit der Gemeinde einen Weg gegangen sind und ihr gedient haben, Vertrauen zu schenken. Wenn jemand, der den Weg nicht mitging, weil er erst vor einem Jahr dazu gestossen ist, mitreden will, ist das inakzeptabel. Die Grundlage, das Vertrauen der Gemeinde, fehlt.

Und wenn der Einzelne nicht mitentscheiden, sondern einfach kreative oder musikalische Gaben einsetzen möchte?
Die meisten Freikirchen haben Arbeitsgebiete und Teams. Die Frage ist, wie viel Eigendynamik sie in den Bereichen zulassen. Nach schlechten Erfahrungen wird eine Leitung sich zurückhalten. Zu einer Aufgabe gehören Kompetenzen und Verantwortung, Freiraum und Grenzen.

Die Identität der Freikirchen spiegelt sich in ihrer privatrechtlichen Organisation. Doch im Kanton Bern haben einige der im VFG verbundenen Freikirchen einen Vor-Antrag auf öffentlich-rechtliche Anerkennung gestellt. Wie geht es weiter?
Wir warten den Entscheid des Regierungsrats ab. Wir möchten die Kriterien des Staats für die Anerkennung von Freikirchen erfahren. Wir haben keine Hintergedanken; uns geht es nicht um Privilegien oder um Geld. Es handelt sich um einen Probegalopp. Welche Freikirchen im Kanton dann wirklich eine Anerkennung beantragen wollen, wenn die Kriterien feststehen, ist noch offen. Darüber wird jeder Gemeindeverband selbst entscheiden.

Reden wir noch über Zahlen: Wachsen die Deutschschweizer Freikirchen im 21. Jahrhundert?
2005 glichen die Verluste der einen das Wachstum der andern fast aus. Aber der VFG hat nicht den Anspruch, alle Freikirchen zu vertreten. Letztes Jahr hatten wir Gespräche mit den Foursquare-Gemeinden und dem Brüderverein. Wir meinen, dass eine Mitgliedschaft Vorteile bringt, aber biedern uns nicht an. Mir ist klar, dass die neueren Freikirchen (meist nicht Mitglieder des VFG) sich rascher entwickeln. Insgesamt legen die Freikirchen ein wenig zu. Doch der Anteil der bekennenden evangelischen Christen in der Schweiz verharrt seit Jahren bei drei Prozent. Das ist leider sehr wenig.

Warum geht es nicht vorwärts? kann man fragen. Wenn die Freikirchen dazu beitragen, dass der Anteil im Prozess der Säkularisierung nicht noch tiefer sinkt, ist das schon etwas.

In den Medien ist von einer Wiederkehr der Religion die Rede, unter postmodernen Vorzeichen. Die in Freikirchen übliche Evangelisation mit ihrer vernünftigen, ans Denken appellierenden Argumentation entsprach der Moderne. Müssen sie die Menschen heute anders ansprechen?
Die Gemeinde hat den Auftrag, das Evangelium zu verkündigen. Das geht nicht ohne zu polarisieren, denn man geht von einer letzten Wahrheit aus. Nun gibt es verschiedene Methoden; diese Wahrheit muss man nicht den Leuten um die Ohren schlagen. Jesus hat gesagt: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“ – darauf weisen wir hin.

Dass dieser Anspruch von Jesus nicht populär ist, dazu hat die modernistische Theologie leider beigetragen. Mit unserer Auffassung werden wir auch von einigen Vertretern anderer Kirchen nicht verstanden. In einer Gesellschaft, die absolute moralische Werte leugnet, in der manchmal das Opfer sogar zum Täter gemacht wird, ist es umso schwieriger, die biblische Botschaft zu positionieren. Aber der Heilige Geist tut auch in diesem Umfeld Wunder und überzeugt Menschen.

Wie laden Sie zur Bekehrung und einem neuen Leben ein, wenn Leute sich nicht als Sünder sehen?
Theologisch gesehen, hat das Gesetz die Aufgabe, den Menschen zu überführen, ihm klarzumachen, dass er ein Sünder ist. Wir müssen uns immer wieder fragen: Wie kann ich heute das Gesetz vermitteln, dass es die Menschen trifft und an ihnen diese Wirkung hat?

Ich kam in den 70er Jahren zum Glauben an Jesus Christus. Die damalige Gesellschaft hatte noch stärkere moralische Werte, auch wenn sie schon bröckelten. In den 80er und 90er Jahren brachen dann viele zusammen. Heute überwiegt der Individualismus und die Spass- und Eventgesellschaft. Jeder Pastor kämpft mit der Herausforderung, den Puls der Zeit zu spüren. Die Verkündigung sollte sich einerseits am unveränderlichen Wort Gottes orientieren und andrerseits auch an den Bedürfnissen der Menschen.

Diese Entwicklungen fordern die Gemeinden heraus. Ich glaube, dass der Heilige Geist seine Antwort hat und uns hilft, in dieser Zeit den richtigen Weg zu finden.

Der Freikirchenverband VFG im Internet

Datum: 28.02.2007
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

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