100 Tage Benedikt XVI

Ökumene auf gleicher Augenhöhe – durchs Ernstnehmen der Bibel

100 Tage Benedikt XVI. – nach dem Medienrummel kam der Sommer, und der Papst verreiste wie sein Vorgänger ins Aostatal. Was kann für die Ökumene erwartet werden?
Eberhard Jüngel

Der deutsche Theologe Eberhard Jüngel unterstreicht, dass der deutsche Papst „die Wiedergewinnung der sichtbaren Einheit aller Christen zu einer seiner Hauptaufgaben erklärt hat. Das muss man ernst nehmen.“ Joseph Ratzinger habe aber nie einem Anschluss der Nicht-Katholiken an Rom das Wort geredet.

Der neue Papst komme aus dem Land der Reformation, sagt Jüngel in Gespräch mit der Zeitung „Die Welt“. Auf der Ebene des Denkens des Kirchenvaters Augustin, der für alle abendländischen Kirchen den Grund legte, gebe es „durchaus Verständigungsmöglichkeiten“.

Die deutschen Landeskirchen sozialethisch miteinander auf dem Weg

Der emeritierte Tübinger Theologieprofessor äussert sich positiv über die ökumenische Zusammenarbeit der EKD und der deutschen Bischofskonferenz, „vor allem bei sozialethischen und gesellschaftspolitischen Fragen“ (was von der Schweiz nicht gesagt werden kann). Dabei bleibe das jeweilige Profil der Kirchen durch ihre markanten Persönlichkeiten klar erkennbar.

Seit der Gemeinsamen Feststellung zur Rechtfertigungslehre 1999 in Augsburg (Lutheraner und Katholiken) seien zwar „im theologischen Verständnis von Taufe und Eucharistie enorme Fortschritte erreicht“ worden, urteilt Jüngel. Doch was das gemeinsame, evangeliumsgemässe Feiern betreffe, sei man nicht recht vorangekommen. Und das Verständnis der kirchlichen Ämter trenne weiterhin.

„Gemeinschaft gegenseitigen Andersseins“

Der prominente Tübinger Theologe findet, dass die Kirchenbasis vom Konfessionalismus weg will. „Und das wird das Modell der sichtbaren Einheit aller Christen sein: eine Gemeinschaft gegenseitigen Andersseins, wie in einer Familie oder in einem polyphonen Musikwerk von Bach.“ Am Papst aus deutschen Landen schätzt er das Bestehen auf Klarheit und die „Abneigung gegen gefährliche Vieldeutigkeiten“.

Wahrheitsanspruch im Pluralismus

Anders als Joseph Ratzinger will Jüngel nicht „in einem Atemzug vor Relativismus und Pluralismus“ warnen. Denn: „Pluralismus heisst zunächst, dass ich den Wahrheitsanspruch anderer ebenfalls gelten lasse und meinen eigenen Wahrheitsanspruch, den ich tapfer vertrete, nicht mit Gewalt, sondern allein mit der Kraft des Argumentes durchzusetzen versuche. In diesem Sinne ist der Pluralismus ein nicht mehr aufgebbares Element.“

Nur mit der Bibel

Ökumene gedeiht laut Jüngel „nur mit einem gehörigen Vertrauensvorschuss auf beiden Seiten. Und dann bitte mutig und auf gleicher Augenhöhe miteinander reden!“ Die grosse Chance für ökumenisches Miteinander sieht der Theologe im Bibellesen: Das gemeinsame Ernstnehmen der Heiligen Schrift sei das Minimal- und Maximalprogramm der Ökumene. „Wenn Christen gemeinsam Reichtum und die Vielfalt der biblischen Texte entdecken und dabei erfahren, dass diese Texte lebendiges Wort Gottes sind, dann sind sie an der Quelle, von der jeder Christenmensch lebt.“

Quelle: Livenet/Die Welt

Datum: 27.07.2005
Autor: Peter Schmid

Werbung
Livenet Service
Werbung