Das Kreuz mit dem Kreuz: Tagung über «Opfertheologie» in Zürich

Gespannte Aufmerksamkeit auch am Nachmittag
Esther Straub
Pierre Bühler
Regine Munz
Das Podium wurde von Erwin Koller geleitet.
Die St. Peter-Kirche in der Zürcher Altstadt
Paul Kleiner

Was geschah, als Jesus von Nazareth am Kreuz hingerichtet wurde und starb? War sein Tod (k)ein Sühnopfer zur Versöhnung der Menschen mit Gott?

Vor bald 2000 Jahren wurde in Jerusalem ein Wanderprediger aus Galiläa von der römischen Besatzungsmacht ans Kreuz geschlagen. So zentral das Ereignis für die Entstehung des Christentums war, so vielschichtig sind die Aussagen des Neuen Testaments. Und kontrovers, wie die Reaktionen auf die Kritik des Passion-Films von Mel Gibson durch die Zürcher Kirchenrätin Irene Gysel zeigten.

Am Samstag haben Vertreter verschiedener theologischer Richtungen an einer Tagung in der ehrwürdigen St. Peter-Kirche in Zürich ihre Gesichtspunkte dargelegt und Gegensätze und Gemeinsames erörtert. Die von der reformierten Landeskirche organisierte Tagung unter dem Titel „Zündstoff Opfertheologie“ wurde von über 200 Personen besucht.

Die Mitte des Glaubens

Der Tag zeigte, dass die Kontroverse an die Fundamente des Christentums rührt. Denn eines war für Gläubige während Jahrhunderten klar – und die Grundlage ihres Glaubens: Jesus starb nicht aus Versagen oder eigener Schuld, sondern erlitt den Tod freiwillig, „als Lösegeld für viele“ (Matthäus 20,28). Durch seine Hingabe in den Tod, als Opfer verstanden, bezahlte er den Preis für ihre Schuld.

Weiter glauben Christinnen und Christen, dass Gott durch das Vertrauen auf Jesus, den Gekreuzigten und Auferstandenen, allen Menschen, die dies als seine Tat annehmen und Jesus als Herrn anerkennen, eine neue Beziehung zu sich schenkt (die Reformatoren sprachen von Rechtfertigung aus Gnade).

Bibelkritiker und Freidenker

Doch vielen deutschsprachigen Theologen der letzten 200 Jahre war der alte Glaube nicht vernünftig und offen genug. Sie haben sich in der Deutung des Kreuzestodes Freiheiten genommen, die zuvor verboten waren oder gar ausserhalb des Vorstellbaren lagen.

Die in der Zeit der Aufklärung aufkommende Bibelkritik ermöglichte, Aussagen verschiedener Autoren als unhistorisch zu erklären und gegeneinander zu stellen und z.B. Jesus gegen Paulus auszuspielen.

Der massgebende, von der Existentialphilosophie Heideggers beeinflusste Theologe Rudolf Bultmann (1884-1976) lehnte die Wunder von Jesus ab und bezeichnete den stellvertretenden, sühnenden Tod am Kreuz als Unsinn.

Ein Ereignis – viele Dimensionen – vielfältige Deutungen

Die von Bultmann beeinflusste, in Zürich vom Neutestamentler Gerhard Ebeling nachdrücklich vertretene hermeneutische Theologie sucht den (Be-)Deutungen des Ereignisses gegenüber dem Ereignis selbst ihr Gewicht zu geben.

Alles dreht sich um Interpretation; intellektuelles Voneinanderlösen und (oft spekulativ kombinierendes) Deuten biblischer Aussagen treten an die Stelle des gläubigen Für-wahr-Haltens, das manchmal als ‚Sonntagschulglauben’ karikiert wird.

Gegen alle Form von Gewalt und gewaltförderndem Denken

Anders als die hermeneutische geht die feministische Theologie mit dem alten Glauben hart ins Gericht. Sie bedient sich der erwähnten Denkräume, um eine von jeglicher Form von Autorität und Herrschaft freie Religiosität zu gestalten.

Während die Deutung von Jesu Tod als Sühnopfer (nach Römer 3,25) von der ersten Strömung relativiert wird, lehnen Feministinnen jede „Opfertheologie“ als Verherrlichung von Gewalt rundweg ab. (Auf dieser Linie kritisierte Kirchenrätin Irene Gysel im März 2004 den Gibson-Film.)

Die in Basel lebende Theologin Regine Munz fragte am Samstag, was Theologie und Kirche denn eigentlich verlieren würden, wenn sie auf diese Deutung, die „mittelalterlich und seit der Reformation erledigt“ sei, verzichten würden. Jesu sei Opfer (engl. victim) von Gewalt geworden; dies dürfe nicht in heilbringende Aufopferung (engl. sacrifice) umgedeutet werden.

Die Formulierung „für uns“, die die Apostel für den Tod von Jesus brauchen, soll laut der feministischen Theologin meinen, dass Christus vor Gott Fürsprache für die Menschen halte. Und diese sollten das füreinander auch tun, selbst wenn es den Tod bedeute.

Wer musste versöhnt werden?

Vor Munz sprachen am Samstag eine Theologin und zwei Theologen, die das Thema aus anderen Perspektiven beleuchteten. Die Schwamendinger Pfarrerin Esther Straub ging davon aus, dass die Schriften des Neuen Testamentes die Heilsbedeutung des Todes Jesu verschieden entfalten. Ihr ging es darum, „wie diese Interpretationen miteinander zu verbinden oder auch gegeneinander abzuwägen sind“.

Jesu Tod habe sich nicht an Gott gerichtet – „etwa als ein Opfer, das Gottes Zorn beschwichtigen sollte“. Denn nicht Gott müsse versöhnt werden, sondern der Mensch mit Gott (2. Korinther 5,20). Straub stellte heraus, dass Gott schon im Bund mit den Israeliten Sühne durch Opfer ermöglicht habe.

Nach Bemerkungen zu Markus und Paulus kam sie kurz auf den Hebräerbrief zu sprechen; dieser stellt Jesus als Hohepriester vor, der sich selbst als Opfer darbringt. Nicht das Sühnopfer interpretiere das Kreuzesgeschehen, sagte Straub, sondern das Kreuz gebe vor, wie das Sühnopfer zu verstehen sei.

Verlassenheit am Kreuz: Einladung zum gelassenen Vertrauen

Anschliessend bezeichnete der Zürcher Theologieprofessor Pierre Bühler das Sühnopfer-Verständnis als eine der möglichen Deutungen. Für heutige Menschen sieht der Ebeling-Schüler im Tod von Jesus aber vor allem die Einladung, in gelassenem Vertrauen auf Gott ohnmächtig zu sein, statt alles beherrschen zu wollen und sich vor der Verlassenheit zu ängstigen.

Sünde sei als Entfremdung von sich selbst zu verstehen; Erlösung als die Befreiung davon. Über die Frage, wie „Opfer“ verstanden werden könne, sollte man besser einige Jahrzehnte lang nicht diskutieren, befand Bühler und schlug, um Distanz zu gewinnen, ein Moratorium vor.

Gott will Gemeinschaft mit den Menschen

Der Winterthurer Theologe Paul Kleiner, Dozent am Theologisch-Diakonischen Seminar Aarau, lud die Anwesenden ein, das Leiden und Sterben von Jesus als unauslotbares Wunder zu sehen. „Die Ehrfurcht davor umfasst, was ich darüber denke.“ Das Wunder werde auch mit dem Bild des Sühnopfers ausgesagt. Um Fehldeutungen zu vermeiden, müsse der Sinn des Bildes aus dem gesamten Alten und Neuen Testament erhoben werden.

Das Sühnopfer sei kein „Deal“ zwischen Schöpfer und Geschöpf, sagte Kleiner, sondern „Gottes Werk, der die zerbrochene Gemeinschaft mit dem Menschen wiederherstellt.“ Gott sei den Menschen in Jesus die ganze Wegstrecke entgegengekommen, betonte Kleiner. Entgegen der feministischen Deutung unterstrich der bibelorientierte Theologe, dass am Kreuz ein gewaltloser Sieg über die Sünde, über Gewalt erfolgte.

Opfertheologie überwinden?

Das zweistündige Podium am Nachmittag leitete der frühere Redaktionsleiter der «Sternstunden» beim Schweizer Fernsehen, der liberale Katholik Erwin Koller, mit teils provozierend einfachen und suggestiven Fragen. Aus den Gesprächsgruppen, die über Mittag liefen, wurden Statements und Fragen eingebracht. Auch der Hinweis kam, dass in ökumenischen Partnerkirchen mit Befremden auf neue Deutungen reagiert wird.

Die grundsätzlichen Differenzen zeigten sich erneut; so lädt das Neue Testament in Bühlers Sicht dazu ein, die „Opfertheologie im strengen Sinn zu überwinden“. Esther Straub meinte, im Karfreitagsgottesdienst sollten die Zuhörer „in einen offenen Verstehensprozess des Neuen Testaments gestellt werden“. Paul Kleiner verwies seinerseits darauf, dass Opfer in der Geschichte der Menschheit – und auch heute – allgegenwärtig ist.

Brauchen wir eine neue Liturgie?

In der Diskussion kam auch zur Sprache, wie eng die Bedeutung von Jesu Tod und der Umgang mit dem Gottesbild des Glaubenden zusammenhängen. Sie zeigte, dass das reformierte Zürich ein Hort theologischer Freidenkerei ist – mit wenig Rücksicht auf die Tradition und das mit ihr lebende Kirchenvolk (man denke an Händel und Bach).

So wurde Bedauern darüber geäussert, dass in den Liedern des (erst vor wenigen Jahren erstellten) Gesangbuchs das traditionelle Verständnis von Karfreitag im Mittelpunkt stehe. Geäussert wurde auch der Wunsch nach einer neuen Liturgie. Kirchenrat Andres Boller schloss die Tagung mit dem Verweis auf die Schwierigkeiten der Pfarrer, jedes Jahr an Karfreitag zu predigen…

Die Vorträge der Tagung als PDF herunterladen unter
http://zh.ref.ch/content/themen/opfertheologie/index_ger.html

Der Wirbel um „Opfertheologie“ im Frühjahr 2004
www.livenet.ch/www/index.php/D/article/154/16087/

Datum: 22.03.2005
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

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