„Jesus ist der Täufer“

Markiges Plädoyer für die Zulassung der Wiedertaufe

Darf die reformierte Kirche denen, die als Baby getauft wurden und nun eine Glaubenstaufe wünschen, absagen? Nein, meint eine wachsende Gruppe von Schweizer Pfarrern, entgegen allen Vorschriften von oben. „Jesus ist der Täufer“, betont Paul Veraguth in seinem neuen Buch, das die Autorität der Kirche in Sachen Taufe hinterfragt.
Paul Veraguth
„Jesus ist der Täufer“: In seinem neuen Buch hinterfragt Paul Veraguth den Umgang der Kirche mit der Taufe.
„Kleines Bäumchen der Hoffnung“: Pfr. Geri Keller vor dem Zürcher Grossmünster
Täuferjagd bei Herrliberg am Zürichsee: Die reformierte Kirche befürwortete im 16. Jahrhundert die Verfolgung der Täufer.
Am 26. Juni 2004 bat der Zürcher Kirchenratspräsident Ruedi Reich (links) die Nachfahren der verfolgten Täufer um Verzeihung. Rechts der Vorsitzende der Schweizer Mennoniten, Thomas Gyger.
Die Gedenktafel an der Schipfe in Zürich erinnert an die Täufer, die in der Reformationszeit hingerichtet wurden.
US-Mennoniten und Schweizer Reformierte am Begegnungstag an der Limmat.
Evangelische Taufe.
Mennoniten pilgern zur Täuferhöhle ob Wappenswil im Zürcher Oberland, wo sich ihre verfolgten Vorfahren versteckten.

Das „Anliegen der Wiedertaufe“ muss auf dem Tisch bleiben. Als Sprecher der reformierten Pfarrer und Pfarrerinnen in der Deutschschweiz, die dies fordern, hat Paul Veraguth ein Buch unter dem Titel „Sag mir, wo die Blumen sind“ verfasst. Die 110-seitige Studie, der einige Erfahrungsberichte angehängt sind, ist im Februar im Verlag der Winterthurer Stiftung Schleife erschienen.

Ein Durchgang durchs Buch zeigt, wie zentral die Fragen um Taufe und Wiedertaufe für das Leben und Wachsen der Kirche sind. Und doch soll darüber nicht geredet werden: Der Schweizerische Evangelische Kirchenbund hat im Dezember in einer Stellungnahme allen Versuchen, die Wiedertaufe ins Gespräch zu bringen, eine Abfuhr erteilt.

Lässt die Kirche hier Veränderung zu?

Im Vorwort bedauert der Schleife-Leiter Pfr. Geri Keller, dass „in der Kirche und Theologie alles verhandelbar ist, selbst Gott“, aber am bisherigen Verständnis von Taufe nicht gerüttelt werden darf. Für Keller sind weder die dogmatische Aussage von der Einmaligkeit der Taufe noch „die über 1600 Jahre gewachsene Tradition der Kindertaufe“ noch neuere grosskirchliche ökumenische Absprachen (gegenseitige Anerkennung der Taufe) bindend.

Die reformierte Kirche bezeichne sich gern als ‚semper reformanda’ (unablässig umzugestalten), schreibt Keller. Sie solle – wenn sie dies bei den Forderungen homosexuell Empfindender tue – auch den Schrei jener Minderheit ihrer Gläubigen hören, „die als wirksames Zeichen für ihr Leben mit Christus eine Taufe in den Tod und die Auferstehung Jesu brauchen“.

Riss zwischen den Kirchen – seit 1525

Keller macht als Seelsorger geltend, dass „wir nicht länger die zutiefst Taufbedürftigen am Wege sehen und an ihnen vorübergehen – in der Erwartung, dass sich ja die Freikirchler ihrer annehmen werden, falls sie sich mit ihrer Kindertaufe nicht zufrieden geben wollen“.

Keller will nicht das Rad der Geschichte zurückdrehen, die seit der ersten (täuferischen) Freikirche 1525 in Zollikon bei Zürich fast nur Distanz, Verachtung und für Generation bloss Verketzerung der Freikirchen durch die Landeskirche kannte. Mit dem Buch soll „ein kleines Bäumchen der Hoffnung und Versöhnung“ gepflanzt werden.

Die Taufe – ohne theologische und historische Verkleidung

Paul Veraguth, Pfarrer in Wattenwil bei Thun, erinnert einleitend daran, dass im Lauf der Kirchengeschichte „die allgemeine Taufe, der eigentliche Taufzwang für jedermann („jedeskind“), zu einem Instrument der Macht … gemacht wurde“.

Das Seelenheil gab es nur um den Preis der Kirchenmitgliedschaft durch Taufe und Kirchensteuer. Doch vor dem Zeitalter, das im Jahr 313 mit Konstantin begann, lebten zehn Generationen Christen, die anders mit und aus der Taufe lebten.

Lamm mit Löwenherz

„Die Taufe ist das äussere Zeichen der Aneignung von Jesus Christus.“ Die Mitte aller Tauftheologien darf laut Veraguth nicht von Tradition und Reflexion zugedeckt werden – diese Mitte ist das Blut von Jesus, der sein Leben dafür gab, dass „viele Menschen aus der Gewalt des Bösen befreit werden“ (Matthäus 20,28). In knappen Strichen und kräftigen Bildern wird das Geschehen von Karfreitag nachgezeichnet: Nachdem das Lamm mit Löwenherz sich hatte schlachten lassen, stand an Ostern der Löwe im Lammfell auf.

Veraguth bringt en passant Rembrandt, Dürer und Grünewald, die grossen Maler des Kreuzes, ins Spiel gegen jene modernistischen Umdeuter des Geschehens, die behaupten, Versöhnung geschehe ohne Blut. Und er folgert: „Die Krontexte der Taufe, allen voran Römer 6, sind auch bei Paulus freihändige Argumentation dafür, dass das Untertauchen nichts ist als Tod Christi, und das Auftauchen nichts als Auferstehen mit ihm.“

Römer und Christen fanden sich im Judenhass

Der Pfarrer aus dem Berner Gürbetal erinnert daran, welche Helden die christliche Taufe aus einfachen Menschen im Römerreich machte. „Die Taufe war eine Herzensentscheidung, die Mut erforderte. Und sie war gleichzeitig das Ende des Machtgehabes. Das Ende der Ambitionen. Menschen wollten bewusst in Jesus und mit Jesus und durch Jesus ihre inneren Abgründe bezwingen und über die Sünde siegen.“ Schliesslich bezwang der neue Glaube das Weltreich.

Dass im 4. Jahrhundert das Christentum die herrschende Religion wurde, hatte auch mit der Ausgrenzung seines jüdischen Erbes zu tun. Ihr leistete der alte Antijudaismus in der römischen Oberschicht Vorschub. So kam die Kirche für den Staat „als Braut in Frage“. Und Konstantin handelte. Im Jahr 313 wurde den römischen Bürgern der neue Glaube erlaubt, und wenig später begann der Kaiser in die Belange der neu etablierten Kirche hineinzuregieren.

Die Falle schnappt zu

Ein knappes Jahrhundert später „schnappte unter Theodosius II. im Westreich die Falle endgültig zu: ‚Wenn etwa einer von den Dienern der christlichen Gemeinde angegeben oder gefunden wird, der jemand wiedergetauft hat, so soll er zusammen mit dem Wiedergetauften, wenn derselbe entsprechend überzeugt ist, und von seinem Alter her die Lästerung versteht, mit dem Tod bestraft werden.’ Im Jahr 413 erliess der Kaiser das erste Staatsgesetz, welches Glaubenszwang und Todesstrafe auf eine Linie stellte.“

Zeugung und Geburt der Kindertaufe

Wann aber – und wie – entstand die Kindertaufe? Für Veraguth sagt der oft herangezogene Satz, dass sich der Gefängnischef von Philippi „mit seinem ganzen Haus“ taufen liess (Apg. 16), nicht mehr, als dass „diejenigen, die damals als volle Personen galten, getauft wurden. Das können auch Kinder gewesen sein, auch die Bediensteten oder Sklaven. Es können ebenso gut gerade nicht die Kinder gewesen sein, weil sie in der Antike grundsätzlich nicht als Personen im Vollsinn galten.“

In den ersten fünf Jahrhunderten der Kirchengeschichte „behielt die allgemeine Erwachsenentaufe die Oberhand, mit vorangehendem Katechumenat, einer Art Lehrzeit“. Führende Kirchenväter warnten – gegen Cyprian – vor dem raschen Gang zur Taufe; manche Christen schoben die Taufe lange hinaus. „Erst im sechsten Jahrhundert kann von einem Überhandnehmen der Kindertaufe die Rede sein.“

Mittelalter: Kirche beansprucht Säugling

Fest mit dem Staat verbunden, legte fortan „die Geistlichkeit ihre Hand auf den neugeborenen Menschen und verleibte ihn dem päpstlichen Kirchengebilde ein, bevor dieser auch nur ‚Papa’ sagen konnte. Über die Kirche als Heilsanstalt und den Papst als Pontifex (Brückenbauer) gehörte der Säugling direkt Gott, ohne dass seine leiblichen Eltern diesen langen und beschwerlichen Weg des Vorbildes bis zur Mündigkeit ihrer Söhne und Töchter gehen konnten. Gehen mussten. Gehen durften.“

Die katholische Kirche untermauerte diese Praxis mit der Lehre von der Erbsünde; danach galt: „Die Taufe befreit das Kind von der Erbsünde und pflanzt ihm göttliches Leben ein.“

Gleichwertigkeit der Christen – in der Reformation im Blick

Auf seinem raschen Gang durch die Kirchengeschichte, einer eigenwillig selektiven, farbigen, mit Bildern von heute durchmischten Darlegung, behandelt Veraguth dann die Reformation. Nachdem die mittelalterliche Kirche den Menschen von Geburt an in den Lift Richtung Himmel gesetzt hatte, erfanden die Reformatoren „die Horizontale“ neu. „Das Priestertum aller Gläubigen, wie Luther es nannte, kam beinahe zustande. Ansatzweise lebte die Gleichwertigkeit der Christen auf.“

Doch im Gerangel der Mächtigen wurde, als die Bauern aufbegehrten, die Reformation bereits 1525 zur Sache der Obrigkeit. Den Reformatoren erweist Veraguth Reverenz und verweist auf die Kämpfe, die sie unaufhörlich zu fechten hatten; dabei formuliert er: „Menschen, die mit der Vergangenheit nicht im tiefsten Herzen versöhnt sind, prägen die Zukunft mit Unversöhnlichkeit.“

Der Autor, der selbst täuferische Vorfahren hat, meint, damals habe den Vorkämpfern des Evangeliums Zeit gefehlt, um innerlich und geistlich heil zu werden. „Die fehlende Zeit des Heilwerdens erwies sich als aggressives Defizit. Als die ersten Täufer ihre ganzheitliche Sicht von Nachfolge und Gemeinde vor den Lehrpulten Zwinglis und Luthers präsentierten, ging eine sehr heftige Auseinandersetzung los.“

Zwei Komponenten – ein Leim für Jahrhunderte

Im Verbund mit den Mächtigen grenzten die Reformatoren jene aus, die radikaler als sie den Glauben zu leben versuchten – und dabei die Kindertaufe ablehnten. „Nickende Fürsten und Stadträte waren die besseren Partner, selbst dann, wenn sie Kern und Stern der Schrift nur halbwegs verinnerlichen konnten.“ Veraguth stellt die Ertränkungen von Täufern in der Limmat in Zürich (1527-32) den Versöhnungsschritten gegenüber, welche die Zürcher reformierte Kirche 2003 und 2004 auf Täufer hin getan hat.

Aus grosser zeitlicher Distanz meint der Nicht-Historiker, die Grosskirchen hätten die Täufer als Freikirche zulassen können, ohne sich selbst zu gefährden (über das Potenzial sozialen Protests, das sich in einer solchen Bewegung hätte Luft verschaffen können, schweigt er sich aus). Die Bilanz lautet, „dass sich die reformierte Säuglingstaufe endgültig verfestigte, als die Tradition einerseits und die Abwehr gegen die Täufer anderseits wie ein Zweikomponentenleim zueinander gemischt wurden“.

„Jesus ist der Täufer“

In der Mitte seiner Schrift ist Veraguth in der Gegenwart angelangt. Mit dem Verweis auf kantonale Kirchenordnungen, die Kindersegnungen und Erwachsenentaufen ausdrücklich zulassen, konstatiert er dankbar „ein Umdenken in der reformierten Kirche, wie es zur Zeit der Reformation nicht möglich gewesen wäre“.

Er meint, dass mit einer Zulassung der Wiedertaufe dem Missbrauch und der Verwässerung der Taufe nicht Tür und Tor geöffnet werden – und fragt im Gegenzug, ob denn in der gängigen reformierten Praxis, in welcher Taufe oft zum äusserlichen Ritual verkommen ist, nicht eben dies geschieht.

Das Sakrament tut’s nicht

Die Kritik des Sakramentalismus (Glaube an die Taufe als Handlung statt an den Gott der Taufe) nimmt ein eigenes Kapitel in Anspruch. Aus Veraguths Blickwinkel werden „die kommenden Diskussionen anhand von Wiedertaufen zeigen, ob die Taufe zu einem Ersatz für eine Jesus-Beziehung und zu einem Heilspharmakon hinaufstilisiert wird.“

Dazu dürfe das heilige Zeichen nicht missbraucht werden, betont der Berner Pfarrer nicht ohne drastische Worte. „Denn die Heiligkeit der Taufe kommt nicht von ihrer Einmaligkeit her, sondern von der Heiligkeit und heiligen Liebe dessen, der tauft“.

Trend zu Taufgedächtnis und –bestätigung

Auf den folgenden Seiten ist der Dorfpfarrer zu hören, der Jugendliche konfirmieren soll, und der Seelsorger von Menschen, die sich ihres Glaubens vergewissern möchten. „In Osternachtfeiern hat es sich mancherorts eingebürgert, dass Menschen ihr Getauftsein für sich wieder neu beanspruchen.“

Eine neuere Schrift von Zürcher Theologen zu „Taufgedächtnis und Taufbestätigung im reformierten Gottesdienst“ sieht Veraguth als Herausforderung und als Indiz für die Bereitschaft, „die Kindertaufe in einer ‚intimen’ Feier gelten zu lassen und sie gleichzeitig über sich selbst hinauswachsen zu lassen“. Doch wer mehr will, das Zeichen von Untertauchen und Auftauchen, dem bleibt bis heute – so die gängige Meinung – nur die Freikirche.

Ungehorsame Pfarrer

Nein, es gibt Pfarrer, die Wiedertaufen vollziehen – im Ungehorsam gegen die Kirchenordnung. Veraguth weiss aus eigener Erfahrung: „Dass ein Pfarrer, eine Pfarrerin sich durch Wiedertaufen exponiert, dass der gesamte Dienst in Verruf und die Person in Ungnade geraten und fallen kann, ist bekannt.“

Andere trauten sich nicht: „Durch diesen Druck sind viele meiner Kollegen und Kolleginnen schon geistlich missbraucht worden, d. h. sie haben entgegen ihrer innersten Stimme auf die Zähne gebissen und gesagt: ‚Nein, das geht leider nicht.’ Sie wurden in dem elenden Gefühl allein gelassen, sie seien wieder einmal gegen eine Jahrtausendmaschinerie ohnmächtig gewesen und hätten ein Blümlein unter dem Schnee der Kälte überlassen.“

…und die Ökumene?

Gegen Ende seines Toleranz-Plädoyers sucht der Autor das Argument zu entkräften, die Wiedertaufe verbiete sich schon mit Rücksicht auf die weltweite Ökumene der Reformierten mit der römisch-katholischen Kirche und anderen Grosskirchen. Andererseits beschäftigt er sich mit dem Eindruck, dass die Säuglingstaufe in den Grosskirchen dem christlichen Ruf zur Nachfolge im Weg steht.

Im Anschluss an Dietrich Bonhoeffer schreibt Veraguth: „Die billige Gnade ist ein Gnadenkiller, weil sie die Sünde verheimlicht und verharmlost. Sie raubt die Chance, welche in der Wahrhaftigkeit und Reue liegt. Sie ist nicht die Wahrheit, die frei macht. Denn das, wovon Menschen frei werden sollen, wird zum blossen Kavaliersdelikt heruntergespielt. Wollen wir, dass zuvorlaufende Gnade auch rettende Gnade, erlösende Gnade wird, so kommen wir um den unliebsamen Begriff des Gehorsams nicht herum.“

Lebensverändernd

Auf die Taufe bezogen, heisst dies laut Veraguth: „Es gibt kein Zeichen, das so sehr, so kräftig, so verheissungsvoll in eine Nachfolge Jesu hineinweist und –mündet wie das bewusste Getauftwerden dessen, der es wagen will.“

Wenn die Taufe nicht mit ihrem lebensverändernden Potenzial unter die Leute kommt, dann sind laut dem Gürbetaler Pfarrer die Theologen dafür verantwortlich. Sie vollziehen die Säuglingstaufe im Gottesdienst – mit all ihren Mängeln: „Man kann (und wird) uns Theologen einen Vorwurf machen, und zu Recht, wenn wir der Kindertaufe die Kraft einer menschen- und gesellschaftsverändernden Initialzündung zuschreiben.“

Paul Veraguth
Sag mir, wo die Blumen sind
Das Anliegen der Wiedertaufe
119 Seiten
Schleife Verlag, Winterthur. 2005
sfr 14.90, € 7.95
www.schleife.ch/D/publications/publications.htm?http://www.schleife.ch/D/publications/pub_new.htm

Datum: 15.03.2005
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

Werbung
Livenet Service
Werbung