Georg Schmid

„Die Jesusbewegung war eine ungeheuer gesegnete Sekte“

Über Jahrzehnte hat er sich mit Sekten befasst, der Zürcher Religionswissenschaftler Georg Schmid. Eine Diskussion zu seinem neuen Buch zeigte, dass der Sektenbegriff durchaus helfen kann, Kirche als dynamische Gemeinschaft von Jesus-Nachfolgern zu verstehen – und zu erneuern.
Die Evangelien neu gelesen: Georg Schmid
Die ersten Christen hoben nicht ab: Ruedi Reich. Rechts Silvia Liniger.
Engagiert: Josef Imbach
Facettenreiche Diskussion in der Helferei beim Grossmünster

Lustvoll provoziert Georg Schmid in seinem neuen Buch „Die Sekte des Jesus von Nazaret“, indem er die Koordinaten verschiebt: Die Bewegung, die um Jesus entstand, war zuerst eine Sekte im Judentum – das ist als historisches Faktum unter Bibelgelehrten akzeptiert. Doch Georg Schmid geht darüber hinaus; er lädt die Kirchen von heute ein, ihren Ursprung in jener ‚sektiererischen’ Gemeinschaft neu zu würdigen und sich selbst in ihrem Spiegel zu sehen.

Dynamische Nachfolgegemeinschaft…

An der Vernissage des Buchs am 10. März in der Helferei beim Zürcher Grossmünster diskutierte der aus dem Bündnerland stammende reformierte Theologe mit dem katholischen, bei Rom in Ungnade gefallenen Theologieprofessor Josef Imbach, der Berner Theologin Silvia Liniger und dem Zürcher Kirchenratspräsidenten Ruedi Reich. Dieser betonte, dass Jesus Menschen aus ihrer normalen Umgebung (und ihren häuslichen Verpflichtungen) herausrief in die Nachfolge. Der Begriff ‚Sekte’, abgeleitet vom lateinischen ‚sequi’ (folgen), meint laut Schmid „eine dynamische Nachfolgegemeinschaft, geprägt von Erfahrungen gemeinsam erlebter oder gemeinsam anvisierter Unmittelbarkeit…“

…erneut zu entdecken

Der Gesprächsleiter Philippe Dätwyler fragte, warum denn die unmittelbare Beziehung zu Gott, die bei Jesus so stark war, in den Kirchen heute kaum mehr „verwandelnde Kraft“ aufweise. Schmid bemerkte, zu den Nachfolgern seien bald „Nachlaufende und Nachdenkende“ (Theologen) gekommen – und für die entstehende Organisation auch Verwalter.

Doch solle die Kirche, wenn sie älter geworden sei, ihre Jugend nicht vergessen, sondern sie umso mehr wieder zu entdecken suchen. „Die Jesusbewegung war eine ungeheuer gesegnete Sekte… Wenn es sie nicht gäbe, müsste man sie erfinden – gerade als Sektenberater“, meinte Schmid pointiert.

„Glaube ohne Purzelbäume“

Josef Imbach skizzierte, was Religionsgemeinschaften aus dem ursprünglichen Erleben gemacht haben: De Buddhisten gossen, was sie von der Erleuchtung des Meisters zu fassen vermochten, in eine Philosophie. Die Kirchen entwickelten das Dogma, wogegen Sekten ihren Lehranspruch wahnhaft ausgestalteten. „Heute schlägt der Glaube keine Purzelbäume mehr; er kommt im Alltagstrott daher.“

Ruedi Reich hob jedoch hervor, dass auch die ersten Nachfolger von Jesus in der Krise in Jerusalem versagten. Daher stimme die klischeehafte Entgegensetzung einer goldenen Frühzeit zum heutigen Malaise nicht. „Ich bin froh, dass es damals auch so war – sonst wäre es trist heute.“

Jesusbewegung als „Mustersekte“

Georg Schmid verwies auf die Leidensankündigungen von Jesus. Wunder drängten Menschen gewöhnlich in einen Wahn hinein, sagte Schmid, doch Jesus, der ständig Wunder vollbrachte, habe die Allmachtsgelüste gestoppt – was bei keiner anderen Sekte zu sehen sei. Für den Autor sind „der Jüngerkreis des Rabbi von Nazaret und die ersten christlichen Gemeinschaften in dreifacher Hinsicht Mustersekten“: Sie hätten wie keine andere Bewegung der letzten 2000 Jahre „modellartig Nachfolge vorgezeichnet“.

Zum zweiten hätten Jesus und die ersten Christen ein „Grundmuster der Nachfolge“ gelebt, an dem sich alle neueren Bewegungen und Sekten zu messen hätten. Schliesslich hätten die ersten Christen zumindest stückweise neues Menschsein angeboten, ohne sich in Gruppendünkel zu verirren.

Die Evangelien neu lesen

Am Schluss der lebhaften Diskussion in der Helferei – auch Vertreter von Freikirchen (und wohl auch Sekten) sassen in den Reihen – stellte Georg Schmid den irdischen, realistischen Charakter der grossen Erfahrungen der Jünger (bis hin zum „Picnic“ mit dem Auferstandenen in Johannes 21) heraus. „Wenn wir diese Reich-Gottes-Erfahrung im Alltäglichen erwarten, in den Aufgaben, die uns gestellt sind, sind wir, glaube ich, sehr nahe bei dem, was Jesus gelebt hat.“ Unter diesem Blickwinkel seien die Evangelien neu zu lesen.

Datum: 21.03.2006

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