Christen im Schatten des Islam (2): Fremde Herrscher, Gelehrte und die Scharia

Wie leben und lebten arabische Christen unter islamischer Herrschaft? Wie hat sich ihre Minderheitensituation entwickelt? Andreas Kaplony, Assistenzprofessor für Islamwissenschaften an der Uni Zürich, verweist im Livenet-Gespräch auf die speziellen Machtstrukturen in der arabischen Welt des Mittelalters, unter denen auch Muslime litten – und die bis heute nachwirken.
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Livenet: Wie gingen die islamischen Herrscher im Mittelalter mit den Christen in den eroberten Gebieten um?
Andreas Kaplony: In der Zeit der Kreuzzüge, ab 1100, kamen die orientalischen Christen zwischen Hammer und Amboss; die Muslime hatten sie im Verdacht, mit westlichen Mächten gemeinsame Sache zu machen.

Zuvor, in der Frühzeit des Islam, war die Stellung der Christen in islamisch beherrschten Gebieten anders bestimmt worden: Sie galten als Dhimmi, das heisst, sie hatten sich dem Schutz der Muslime unterworfen, zahlten als Sonderabgabe die Dschisja, die Kopfsteuer, und wurden dafür geduldet.

Jahrhundertelang waren die Christen in Palästina und Ägypten, auch in Nordafrika und im Irak die überwiegende Mehrheit. Die Ägypter heute sind im grossen Ganzen Nachkommen der christlichen Ägypter; ebenso sind, wie ich glaube, die Palästinenser die jetzt arabischsprachigen Nachfahren der christlichen Bevölkerung Palästinas in vorislamischer Zeit.

Kurz nach der Eroberung der Länder durch die Araber gab es ganz wenige Muslime. Der Dhimmi-Status bedeutet Duldung: Die Bevölkerung muss die Steuer bezahlen, damit sie als nicht-islamische Körperschaft geduldet wird; dafür lässt man sie in Ruhe, und sie kann weiterleben wie bisher.

War die Dschisija einkommensabhängig oder eine einfache Kopfsteuer?
Die Sache ist komplizierter, weil zuerst eben die ganze Gemeinschaft diese Dschisja bezahlt hat. Nachher wurde die Kopfsteuer nach Haushalten berechnet. Wir wissen nicht genau, wie sie erhoben wurde. Als die Christen in die Minderheit gerieten und ihr Bevölkerungsanteil nach Jahrhunderten immer weiter sank, zahlten sie weiterhin Kopfsteuer.

In Ägypten sieht man die Entwicklung gut. Im Lauf der Zeit haben sich Kopten in die Städte zurückgezogen. Sie waren gut ausgebildet und in bestimmten Berufen, auch als Beamte, besonders stark vertreten – und anderseits waren sie Bauern. Noch heute sind die Kopten zum einen Bauern – oder aber einflussreiche Städter mit weiten Beziehungsnetzen, ähnlich wie die Juden in Westeuropa. Sie kontrollierten den Handel zwischen den Städten und pflegten internationale Kontakte. Als die westlichen Mächte im 19. Jahrhundert im Nahen Osten massiv Einfluss nahmen, hat ihnen das geholfen.

Wir unterscheiden also drei Phasen: zuerst die Duldung als Dhimmi in der Frühzeit und dann den aufkeimenden Verdacht der Unzuverlässigkeit infolge der Kreuzzüge zur Zeit der Mongolen-Einfälle www.livenet.ch/www/index.php/D/article/362/18465 . Nach 1800 kam – dies eine dritte Phase – der arabische Nationalismus auf.

Dabei waren die libanesischen, syrischen und ägyptischen Christen lebhafte Vertreter, ja sogar Vorkämpfer dieser Bewegung. Warum? Die Minderheiten waren (auch hier ähnlich wie die Juden in Westeuropa) interessiert am Nationalismus, da er allen die gleichen Rechte gab. Egal ob Christ oder Muslim, alle hatten als Ägypter oder Syrer dieselben Rechte. So ist der Nationalismus stark von orientalischen Christen getragen worden…

…als gesamt-arabische Bewegung gegen die Oberherrschaft der Osmanen?
Ja, gegen die türkischen, nicht-arabischen Herrscher. Vielleicht hatte der Dhimmi-Status im Bewusstsein der breiten Bevölkerung noch seine Nachwirkung (auch die Juden erlebten trotz der Gleichberechtigung, die ihnen nach 1860 in der Schweiz gewährt wurde, Ablehnung und Ausgrenzung). Doch seit dem Durchbruch des Nationalismus sind die Christen im Prinzip mit den Muslimen gleichberechtigt.

Dann gibt es den Dhimmi-Status rechtlich gar nicht mehr? Aber die Christen unterlagen und unterliegen doch in den meisten Ländern diversen Einschränkungen, etwa beim Heiraten und beim Bauen und Renovieren von Kirchen?
Eine Entwicklung habe ich bisher nicht erwähnt. Etwa 100 Jahre nach der Eroberung, in der Zeit um 750, haben die Muslime beschlossen, den öffentlichen Raum zu prägen, und dies auch durchgesetzt. „Ihr könnt in den Nischen machen, was ihr wollt“, wurde den Christen gleichsam vermittelt, „könnt auch Wein trinken und Schweine züchten, wenn ihr wollt. Ihr könnt Gottesdienst feiern, wie ihr wollt – aber nicht in der Öffentlichkeit.“

Das heisst dann auch, dass man – ich spreche von den Jahrhunderten vor der Neuzeit, vor 1850 – in der islamischen Welt keine Kreuze in der Öffentlichkeit zeigen durfte. Kirchen, die zerfallen sind, kann man wieder aufbauen, aber nicht neue errichten. Zur damaligen Regelung gehörte, dass ein Muslim eine Christin heiraten konnte (sie durfte ihre Religion behalten, doch die Kinder aus der Ehe wurden selbstverständlich Muslime), dass aber ein Christ keine Muslimin heiraten durfte, ohne dass er selbst Muslim geworden wäre.

Nach etwa hundert Jahren konnte sich die neu entstandene städtische Schicht der Muslime durchsetzen und diese Gesetze formulieren, deren Gesamtheit wir Scharia nennen: Vorschriften, was zu tun und was zu lassen ist, für alle Lebensbereiche. Verschiedene Rechtsschulen feilten an diesen Vorschriften und setzten je verschiedene Akzente.

Bei diesem Prozess setzte sich der Grundsatz durch, dass Dhimmi, formell unter Schutz stehende Minderheiten, den öffentlichen Raum nicht prägen dürfen. Nochmals: ich spreche von den Jahrhunderten vor der Neuzeit, vor 1850 – seither haben die meisten arabischen Staaten westliche Elemente in ihre Gesetzgebung aufgenommen.

Heisst das, dass die Christen im Nahen Osten um 640, als die Muslime ihre Herrschaft errichteten, solchen Beschränkungen noch nicht unterworfen waren? Die neuen Herren schöpften Steuern ab, liessen aber die Untertanen ihre andere Religion im Übrigen leben?
Ja, im Allgemeinen schon. Es gab natürlich, je nach Land und Umständen, Übergriffe gegen Christen, Pogrome und Massaker. Aber zu gewissen Zeiten kam auch die muslimische Bevölkerung unter die Räder. Wir müssen aufpassen, dass wir Verfolgung von Christen nicht isoliert betrachten.

Auch muslimische Bauern wurden brutal behandelt und ausgebeutet; da litt nicht eine religiöse Minderheit, sondern eine soziale Schicht: Der christliche Bauer mag oft gelitten haben, weil er Bauer, nicht weil er Christ war. In der islamischen Geschichte gab es viel Brutalität – in der westlichen Geschichte übrigens auch.

Im 7. Jahrhundert gelang den Arabern die Eroberung grosser Gebiete (Ägypten und ganz Nordafrika, Palästina und Syrien, weite Teile des heutigen Irak und Iran). Im 8. Jahrhundert entstand in den Städten die Schicht islamischer Gelehrten, die die islamische Überlieferung sichtete und das Leben mit der Scharia regelte.

Wieviel Macht hatten die Gelehrten mit der Scharia?
Ein Hauptgrund für die erwähnte Brutalität in der islamischen Welt ist die Spannung, die sich ab dem 9. Jahrhundert entwickelte und die wir im Westen so nie gehabt haben: eine Machtteilung zwischen den Leuten des Schwerts und den Leuten der Feder, den Machthabern und den Gelehrten. Sie wirkten zusammen, doch mehr in einer Hassliebe als in Harmonie.

Herrscher waren oft Nicht-Araber: Türken, Kurden, später auch Mongolen und Schwarzafrikaner gehörten dazu – eine Schicht, die die militärische Macht innehatte und Geld eintrieb. In den Städten lebten, ihrem Mutwillen ausgesetzt und zugleich auf sie Einfluss nehmend, die islamischen Rechtsgelehrten. Sie wirkten als Scharnier zwischen den Leuten des Schwerts und der normalen Bevölkerung, indem sie die Interessen der einfachen Leute gegenüber den Herrschern vertraten und die Auswirkungen ihrer Herrschaft abfederten.

Kein Nährboden für Demokratie und Zivilgesellschaft. Begnügten sich die Araber mit der Gelehrsamkeit und liessen Fremde herrschen?
So kann man das nicht sagen. Kurz nach ihren Eroberungen im 7. Jahrhundert waren die Araber (aus dem Gebiet des heutigen Saudi-Arabien und Jemen) eine dünne Herrscherschicht. Nach Generationen erst übernahmen die meisten Untertanen die arabische Sprache, wobei viele Wörter und Konzepte aus ihren Sprachen einflossen.

Auch die Städter arabisierten sich – nur im Iran war es anders; dort hat die breite Bevölkerung zwar den Islam angenommen, nicht aber die arabische Sprache. Die Arabisierung blieb unvollendet. Die Schrift haben die Perser übernommen, und heute ist ein Drittel des persischen Wortschatzes arabisch, aber die Sprache hat sich erhalten.

Wie herrschten denn die Militärs neben den islamischen Gelehrten?
Wir sehen eine Zweiteilung der Macht: Die Militärherrscher taten prinzipiell, was sie wollten, mussten aber den Gelehrten, die als Richter amteten, einen Teil der Macht abtreten.

Als Fremde übten sie Macht oft auf undurchschaubare Weise aus. Als nun Kreuzfahrer im Orient eintrafen, waren sie für die einheimische Landbevölkerung bloss eine weitere Gruppe von Fremden – aus dem Westen statt dem Osten. Aber ihre Ankunft war nichts Besonderes.

Vor diesem Hintergrund verstehen Sie auch besser, wie das massive koloniale Ausgreifen der Westeuropäer im 19. Jahrhundert erfahren wurde: Sie waren für die Araber einfach eine weitere Gruppe von Fremden, mit denen die Gelehrten vielleicht doch nicht so gut zusammen arbeiten konnten wie mit den anderen Herrschern. Aber es war nichts Neues, dass Fremde die Macht in der Hand hatten. Entscheidend ist, dass seit dem 8. Jahrhundert die städtischen Rechtsgelehrten international vernetzt den Kern der islamischen Gesellschaft bildeten.

Fortsetzung folgt.

Erster Teil des Gesprächs mit Andreas Kaplony über orientalische Christen, Kreuzzüge und Mongolen:
www.livenet.ch/www/index.php/D/article/362/18465

Datum: 17.09.2004
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

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