Spurensuche im Land der Bibel: Eine antike Schiffszeichnung am Ort der Auferstehung Jesu

Grabeskirche in Jerusalem

Beim Hinabsteigen in die armenische Helenenkapelle in Jerusalem erinnern zahllose eingeritzte Kreuze an den Wänden an die Kreuzritter des 12. Jahrhunderts. In diesem Abschnitt wurde im Jahre 1971 eine Wandzeichnung aus dem 4. Jahrhundert entdeckt.

Der britische Archäologe S. W. Helms stellte über die Darstellung eine bestürzende Behauptung auf: Jemand habe das Bild verfälscht, um dadurch eine religiöse Schlussfolgerung zu ziehen.

Im September 1977 erforschten Chefinspektor Kornblum und seine Mitarbeiter von der Jerusalemer Kriminalpolizei diese 1.600 Jahre alte Spur in der Grabeskirche. Das Ergebnis der Untersuchungen mit Infrarot-Aufnahmen war eindeutig: "Jeglicher Verdacht der Manipulation an dem antiken Graffito muss ausgeschlossen werden. Zeichnung und Inschrift sind original."

Ein weit gereister Pilger

Und damit war erwiesen, dass vor dem Jahr 332, dem Baubeginn der konstantinischen Grabeskirche, hier einer der ersten christlichen Pilger seine Spuren hinterlassen hat. Es muss ein Mann mit scharfem Blick und sicherer Hand gewesen sein. Er kam nicht aus der griechisch-sprechenden Welt von Byzanz, sondern er stammte aus dem Westteil des römischen Reiches, vielleicht aus dem fernen Spanien, aus Italien, Gallien oder Nordafrika. In seinem Reisegepäck befanden sich nicht nur Holzkohle und rote Farbe zum Zeichnen, sondern auch eine lateinische Übersetzung der Psalmen.

Die 83 Zentimeter lange und 45 Zentimeter hohe Schiffszeichnung auf sorgfältig geglättetem Stein wäre vielleicht für immer im Unterbau der Kirche begraben geblieben, wenn nicht der armenische Bischof Guregh Kapikian 1970 seinen Patriarchen überzeugt hätte, die Ostmauer der St.-Helena-Kapelle zu durchbrechen. Kapikian hegte den Verdacht, dass dahinter noch ein unerforschter Zwischenbereich lag.

Als die arabischen Arbeiter unter Aufsicht des forschen Bischofs die Mauer öffneten, fanden sie tatsächlich einen Raum von 9 mal 10 Meter. Zahlreiche Keramikfunde, unterirdische Substrukturen und Spuren eines massiven Steinbruches, der sich 13 Meter in die Tiefe erstreckte, wiesen auf eine judenchristliche Kultstätte des ersten Jahrhunderts hin.

"Herr, wir sind gekommen"

Wie gesagt, hatten 1971 die Ausgräber in einer Mauer die mit Schmutz bedeckten Umrisse jener Schiffszeichnung gefunden. Darunter die lateinischen Worte: Domine Ivimus - Herr, wir sind gekommen, wohl als Anspielung auf Psalm 122.

Die Darstellung selbst zeigt ein römisches Handelsschiff, nicht einen Küstensegler, der so eine grosse Strecke gar nicht hätte bewältigen können. Der Bug ist mit einem Gänsekopf geschmückt. Das zusammengerollte Segel, mit rötlichen Seilen verschnürt, liegt hinter dem Mast. Das ganze deutet auf ein dramatisches Geschehen hin, dem der "Künstler" und seine Begleiter ausgesetzt waren: Der Mast ist eher geborsten als umgelegt.

Wahrscheinlich waren die Pilger in einen grossen Sturm geraten. Der Mast brach und das Schiff drohte zu sinken. Bei ihrer Ankunft an der heiligen Stätte brachten sie nun zum Dank für die Errettung aus Todesnot eine Art Votivtafel an: ihr steuerlos gewordenes Schiff und die Anklänge an das Wallfahrtslied nach Jerusalem: "Domine Ivimus".

Rechter Hand erreichen die Pilger über 22 Stufen die Grotte der Kreuzauffindung. Hier zeigen sich noch deutlich die Spuren des antiken Steinbruchs. Später wurde die Aushöhlung verputzt und diente als Zisterne. Nach dem Zeugnis der Kirchenväter des vierten Jahrhunderts war die Kaisermutter Helena selbst bei der Kreuzauffindung zugegen. Bei Restaurationsarbeiten kamen 1965 Spuren eines frühchristlichen Kultorts ans Licht: Fresken und Inschriften im Verputz und an den Felswänden.

Komplexe Geschichte

Wenn man sich die komplexe Geschichte dieser heiligen Stätte vergegenwärtigt, so erweist sie sich als ein Ort, der im Laufe der Jahrhunderte mehr als einmal aus dem Gedächtnis der Gläubigen ausgelöscht werden sollte und gerade deshalb um so stärker darin haften blieb; ein Ort, für den die Kreuzfahrer Kriege im Namen dessen führten, der hier in absoluter Gewaltlosigkeit für alle sein Leben hingab; der einzige Ort der Christenheit, an dem sechs verschiedene Konfessionen unter einem Dach, wenn auch noch getrennt, den einen auferstandenen Herrn verehren. Vielleicht werden sie eines Tages gemeinsam der Welt das Zeugnis jener Einheit geben, die Jesus als sein Testament den Seinen hinterlassen hat.

Auf diese Weise hatte der frühchristliche Pilger sein tiefstes religiöses Empfinden zum Ausdruck gebracht. Seine Zeichnung bestätigt ausserdem die ununterbrochene Verehrung der heiligen Stätte, noch bevor Helena den Ort als Golgota und Grablege Christi identifiziert, noch bevor Kaiser Konstantin die Auferstehungsbasilika darüber errichtet hatte.

Autor: Karl-Heinz Fleckenstein

Datum: 06.08.2004
Quelle: Kipa

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