Das Wohl des Kindes und das Sorgerecht im Islam

Bundesgericht

Lausanne – Das Bundesgericht hat auf einem der sensibelsten Felder der multikulturellen Gesellschaft einen weiteren Pflock eingeschlagen. Bei einer Scheidung darf die elterliche Gewalt über das Kind nicht deswegen dem Vater übertragen werden, weil das ausländische Recht, unter dem die Ehe geschlossen wurde, dies so vorsieht. Das Bundesgericht hatte den Fall eines iranischen Ehepaars, das sich scheiden liess, zu beurteilen; laut seinem Heimatrecht steht das Sorgerecht dem Vater zu, wie die NZZ schreibt. Aber nach schweizerischer Rechtsordnung erhält der Vater bei der Scheidung die elterliche Gewalt nur dann zugesprochen, wenn das Wohl des Kindes es nahelegt.

Nach einem früheren Bundesgerichtsentscheid verbietet die eidgenössische Rechtsordnung die Anwendung ausländischen Rechts, wenn das zu einem Ergebnis führt, „das einheimisches Rechtsgefühl in unterträglicher Weise verletzt und grundlegende Vorschriften der helvetischen Rechtsordnung missachtet“. Die neue Bundesverfassung von 1999 schützt das Wohl des Kindes ausdrücklich.

Das Bundesgericht verlangt auch aufgrund des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Mutter und Vater, „dass ein Kind jenem Elternteil zugewiesen wird, bei dem seine Entwicklung voraussichtlich mehr gefördert wird bzw. bei dem es in der Entfaltung seiner Persönlichkeit am meisten unterstützt wird“. Das schweizerische Recht lässt also eine Lösung nach iranischem Recht nur zu, wenn sich der Vater für die Gewährleistung einer guten Betreuung und Förderung des Kindes empfiehlt.

Scheidung im Islam

Offenbar gibt weder der Koran noch die Sunna, die frühe islamische Überlieferung vor, ob ein Kind im Fall einer Scheidung der Obhut seiner Mutter oder seines Vaters anvertraut werden soll. Dies schreibt jedenfalls die progressive Bieler Muslimin Samia Osman im Sammelband „Muslime und schweizerische Rechtsordnung“ (Freiburger Universitätsverlag, 2002, Seite 368f.). Osman erwähnt, dass die Frau im Islam die Scheidung beim Vorliegen bestimmter Gründe fordern kann. Der Mann hat das Recht, den förmlichen Scheidungsspruch auszusprechen – dies muss dreimal mit zeitlichem Abstand geschehen - und die Frau zu entlassen.

Spätestens in der Pubertät übernimmt der Vater

Abgesehen davon zeigt sich die Spannung zwischen schweizerischem Recht und islamischen Rechtsvorstellungen noch deutlicher bei der Scheidung der Ehe eines Muslims mit einer Nicht-Muslimin. (1990 waren laut der Volkszählung 7586 in der Schweiz lebende Muslime mit einer Nicht-Muslimin verheiratet.) Im erwähnten Freiburger Sammelband (Seiten 387ff.) gibt Petra Bleisch Bouzar Meinungen von führenden Muslimen der Schweiz zum Sorgerecht wider.

Diese Gelehrten seien sich einig, „dass die Kinder bei ihrer Geburt automatisch die Religion ihres muslimischen Vaters erwerben“, schreibt Bleisch Bouzar, aufgrund des Namens wohl selbst eine zum Islam konvertierte Schweizerin. Sie zitiert einen Autor aus der hanbalitischen Rechtsschule des Islam, für den ein Kind aus einer religiös-gemischten Ehe „immer ein Muslim“ ist.

Schweizer ZGB: Dem Kind schliesslich die Entscheidung überlassen

Diese Auffassung steht im Widerspruch zum Grundsatz des Schweizerischen Zivilgesetzbuchs (ZGB); es hält in Artikel 303 fest, dass die Eltern gemeinsam über die religiöse Erziehung verfügen. Weiter hält das ZGB fest: „Ein Vertrag, der diese Befugnis beschränkt, ist ungültig. Hat ein Kind das 16. Altersjahr zurückgelegt, entscheidet es selbständig über sein religiöses Bekenntnis“.

Wie lassen sich damit die folgenden (von Bleisch Bouzar eingeholten) Erklärungen führender Muslime der Schweiz vereinbaren? Der Zürcher Imam und Fatwa-Spezialist Youssef Ibram hält fest, dass eine christliche Mutter (nach der Scheidung einer gemischt-religiösen Ehe) das Sorgerecht bis zum Pubertätsalter der Kinder (12/13 Jahre) ausüben darf; „danach wechseln die Kinder zum Vater“.

Basler Imam: ‚Islamische Erziehung muss gewährleistet sein‘

Der prominente Genfer Islam-Gelehrte Tariq Ramadan meint, „dass nach Auflösung der Ehe in erster Linie der muslimischen Familie das Sorgerecht zufallen würde. Allerdings müsse das von Fall zu Fall entschieden werden. Eine gute christliche Mutter dürfe nicht aufgrund ihrer Religion von ihren Kindern getrennt werden.“

Nach dem Basler Imam Mehmet Kopukaya „muss die islamische Erziehung der Kinder gewährleistet sein“. Generell wird im Islam unterschieden zwischen dem gesetzlichen Vertretungsrecht (wilaya), das dem Vater zufällt, und dem Betreuungsrecht (hadanah), das der Mutter für die ersten Lebensjahre zusteht. Die vier grossen islamischen Rechtsschulen, die sich noch vor dem Jahr 1000 bildeten, äussern sich unterschiedlich zur Frage, ob eine Christin Kinder aus einer geschiedenen Ehe mit einem Muslim überhaupt betreuen darf und wie lange diese Zeit der Betreuung dauern soll.

Unterschiede unter den Rechtsschulen

Laut der Rechtsschule der Schafiiten ist der christlichen Mutter die Sorge für ihre muslimischen Kinder verboten. Bleisch Bouzar schreibt, dasselbe gelte gemäss der Auffassung der Schule der Hanbaliten. Nach Vorgabe der Malikiten sollten die Knaben zu Beginn der Pubertät, die Mädchen im Heiratsalter zum Vater wechseln. Die christliche Mutter darf betreuen, sofern sie die Religion ihrer Kinder (gemeint ist der Islam) „schützt und sie nicht mit Schweinefleisch oder Alkohol ernährt“. Die Hanafiten wollen die Kinder der christlichen Mutter bis zum Alter von sieben Jahren lassen.

Darum prüfe, wer sich bindet...

Im Zuge der religiösen Durchmischung der Gesellschaft erwägen heute mehr und mehr Schweizerinnen, die sich nach stabilen Beziehungen sehnen, die Heirat mit einem Muslim. Die reformierte Pfarrerin Gina Schibler antwortet im neusten Zürcher Kirchenboten auf die Frage einer Frau, die mit einem ausländischen Muslim liiert ist, nachdem sie mit Schweizern mehrere Enttäuschungen erlebte, und ihn heiraten möchte. „Nun überlege ich mir, ob ich zum Islam übertreten soll.“ Der Freund zwinge sie nicht dazu, schreibt die Frau, „doch ich spüre, dass er sich über diesen Schritt sehr freuen würde“.

Schibler antwortet, dass „das Bekenntnis zu dem einen Gott, trotz inhaltlichen Unterschieden und Gegensätzen, Christen und Muslime eint“. Sie verschweigt (jedenfalls in der im Kirchenboten abgedruckten Fassung der Antwort) die Mitte des christlichen Glaubens, welche Muslime wegen ihrer Bindung an Mohammeds Weisungen ablehnen: Für Christen ist Christus der Retter der Menschen und der Herr der Geschichte.

Die religiösen Unterschiede zwischen Islam und Christentum werden in der Antwort Schiblers kürzer angesprochen als kulturelle Differenzen. Sie weist die Fragestellerin darauf hin, dass die Muslime den Koran als Offenbarung ansehen, und rät ihr, „alle diese Fragen im Sinne einer sorgfältigen Vorbereitung der Ehe mit Ihrem Partner zu besprechen“. – Von einem möglichen Kontakt mit einer Pfarrerin ist nicht die Rede.

Traditionelle Geschlechterrollen

Gina Schibler schreibt der Fragestellerin, dass nach klassisch-islamischer Rechtsauffassung „Frauen eine andere Stellung haben als in der modernen westlichen Welt, von der auch Sie geprägt sind“. Wegen der überlieferten Geschlechterrollen liessen manche muslimische Ehemänner eine Erwerbstätigkeit ihrer Frau nicht zu. Die religiösen und kulturellen Unterschiede veranlassen Schibler zum Ratschlag, den sie als persönliche Meinung deklariert, „nicht auf Ihre eigene Religion zu verzichten“.

Bezeichnend für die multi-religiöse Offenheit mancher reformierter Kreise ist, dass ein anderer wesentlicher Punkt als Frage daherkommt: „Sind Sie willens, Ihre Kinder im muslimischen Glauben zu erziehen?“

Datum: 25.03.2003
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

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