Historiker zur Dalai Lama-Euphorie: "Eine Annäherung, die zu einem Wischiwaschi führt, ist nichts wert"

Christian Ruch vor dem Zürcher Hallenstadion, wo der Dalai Lama vom 5. bis 12. August 2005 lehrte. Bild: radio.kath.ch

Der Historiker Christian Ruch über die interreligiösen Feiern, die christliche Kritik am tibetischen Buddhismus und die Lehrveranstaltung im Hallenstadion.

Wenn die Annäherung zwischen Religionen dazu führe, "dass sich beide Seiten von ihren Positionen verabschieden und es ein 'Wischiwaschi' in der Mitte gibt, dann ist eine Annäherung nichts wert", betont der Historiker Christian Ruch, Mitglied der katholischen Arbeitsgruppe "Neue religiöse Bewegungen", in einem Interview mit Radio kath.ch, das die Presseagentur Kipa im Wortlaut festhielt. Anlass dazu ist der von einem enormen Interesse begleitete Besuch des Dalai Lama in der Schweiz. Der Besuch hat mit interreligiösen Feiern in Einsiedeln und Zürich begonnen. - Das Oberhaupt des tibetischen Buddhismus beendet am Freitag seine achttägigen Unterweisungen im Zürcher Hallenstadion.

Christian Ruch, Sie haben die interreligiösen Begegnungen am 2. August in der Klosterkirche Einsiedeln und am 3. August im Münsterhof in Zürich mitverfolgt, die auf riesiges Interesse gestossen sind. Was für Eindrücke haben diese Veranstaltungen bei Ihnen hinterlassen?
Christian Ruch: Man muss unterscheiden. Die interreligiöse Feier auf dem Münsterhof in Zürich hatte die klassische Form einer interreligiösen Begegnung. Man hat das Gemeinsame zwischen den Religionen betont, zum Beispiel die Friedfertigkeit, die allen Weltreligionen gemeinsam ist. In Einsiedeln dagegen war die Tonlage eine andere. Abt Martin Werlen hat vor allem die Unterschiede zwischen Christentum und Buddhismus betont.

Bei der Begegnung in Einsiedeln haben sich zahlreiche Besucherinnen und Besucher daran gestört, dass sich Abt Martin Werlen am Schluss den weissen Schal vom Dalai Lama nicht um den Hals legen liess. Finden Sie die Reaktion Werlens angemessen?
Ich denke, er hätte den Schal ruhig annehmen können. Der Schal, Khatak genannt, ist ein Glückssymbol. Man wünscht demjenigen, dem man den Schal um den Hals legt, eigentlich nur Glück. Wer sich den Schal umlegen lässt, signalisiert damit also kein Einverständnis mit dem tibetischen Buddhismus. Aber Abt Martin Werlen ging es wohl darum, bei aller Gastfreundschaft auch eine gewisse Distanz zu signalisieren.

Zeigt sich diese Haltung der Abgrenzung auch in anderen öffentlichen Reaktionen und Stellungnahmen?
Stellungnahmen mit ausgeprägten Distanzierungen kamen im Vorfeld des Besuchs des Dalai Lama vor allem aus dem evangelisch-freikirchlichen und aus dem evangelikalen Lager. Die Schweizerische Evangelische Allianz (SEA) und die Eidgenössisch Demokratische Union (EDU) störten sich daran, dass die christlich geprägte Schweiz den Dalai Lama als Oberhaupt des tibetischen Buddhismus empfängt.

Berechtigt an dieser Kritik ist in meinen Augen, dass der tibetische Buddhismus, wie der Buddhismus als Religion insgesamt, die Selbsterlösung vertritt. Der Einzelne ist also aufgefordert, sich durch gute Taten von seinem Karma zu reinigen und sich dadurch selbst zu erlösen. Wir Christen vertrauen dagegen auf die Erlösung durch den Tod Jesu Christi.

Ein anderer Punkt, der im Westen leider oft übersehen wird - und in diesem Punkt ist die Kritik wirklich berechtigt -, besteht in der Feststellung, dass der tibetische Buddhismus eine polytheistische Religion ist. Es wimmelt in ihm von Göttern, Geistern, Dämonen und Schutzgeistern. Das wird natürlich von überzeugten Christinnen und Christen nicht gern gesehen.

Ich teile die Kritik aus christlichen Kreisen aber nicht, wenn dem Dalai Lama unterstellt wird, er wolle mittels okkulter Praktiken gewissermassen ein Netz über die westliche Welt auswerfen, um sie sich mit Hilfe dämonischer Kräfte untertan zu machen. In diesem Punkt schiesst die Kritik weit über das Ziel hinaus, ja sie grenzt nach meinem Empfinden schon fast an Verunglimpfung.

Trifft denn diese Kritik aus christlichen Kreisen überhaupt den Dalai Lama, so wie er bei seinem Besuch in der Schweiz auftritt?
Das ist der springende Punkt. Der Dalai Lama, den wir hier in der Schweiz erleben, ist eine spirituelle Führungspersönlichkeit, die antritt, allgemein verbreitete menschliche Werte, eine allgemein anerkannte Ethik zu predigen.

Der Dalai Lama als geistliches Oberhaupt des tibetischen Buddhismus, wie er im indischen Daramsala, am Sitz der tibetischen Exilregierung, wahrgenommen werden kann, ist hingegen ein ganz anderer Dalai Lama. Er befragt Staatsorakel und hat 1998 in seiner eigenen Schule gegen grossen Widerstand einen Schutzgott verboten. Das wird im Westen nicht wahrgenommen. Von da her kommt auch das Unbehagen vieler Christen, die sich mit der Materie beschäftigen. Sie sagen: Der Dalai Lama, der im Zürcher Hallenstadion auftritt, ist eigentlich nicht der Dalai Lama, wie ihn der tibetische Buddhismus kennt.

Der Dalai Lama lehrt noch bis Freitag im Zürcher Hallenstadion. Die Medienberichte darüber sind eher kritisch. Teilen Sie diese Kritik?
Ich teile sie zum Teil. Ein Aspekt hat mir bisher in der kritischen Berichterstattung allerdings gefehlt. Bei seinen Unterweisungen legt der Dalai Lama sehr alte buddhistische Schriften aus. Im Tibet waren die Auslegungen immer nur für ein klerikales Publikum gedacht, also für Mönche und Nonnen, beziehungsweise für junge Menschen, die sich in einem Kloster zum Mönch oder zur Nonne ausbilden lassen. Sie waren auch im Tibet nie gedacht für Laien.

Der Dalai Lama muss sich fragen lassen, was er mit der Massenunterweisung im Hallenstadion macht. Er konfrontiert ein laienhaftes Publikum, das mehr oder weniger - wahrscheinlich eher weniger - Ahnung vom Buddhismus hat, mit einer sehr komplexen Materie. Ich frage mich, was das für einen Nutzen haben kann.

In einem Beitrag der "Tagesschau" des Deutschschweizer Fernsehens konnte man sehen, wie viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer nach den Unterweisungen weniger erleuchtet als viel mehr erschöpft gewirkt haben. Das ist vergleichbar mit einer Person, die vom Christentum keine Ahnung hat, und die mit der Dreifaltigkeitslehre oder mit der Eucharistie konfrontieren würde… Diese Person hätte genau so Mühe zu folgen.

Was bleibt in Ihren Augen vom Besuch des Dalai Lama in der Schweiz, insbesondere von der christlich-buddhistischen Begegnung, von der in den letzten Tagen und Wochen oft die Rede war?
Man spricht allgemein von Annäherung. Ich weiss nicht, ob Annäherung ein Wert an sich ist. Denn wenn die Annäherung dazu führt, dass sich beide Seiten von ihren Positionen verabschieden und es ein Wischiwaschi in der Mitte gibt, dann ist eine Annäherung nichts wert. In meinen Augen müsste ein Dialog stattfinden, bei dem sich beide Seiten ihrer Position und damit auch des Unvereinbaren bewusst sind.

Eines dürfte der Besuch des Dalai Lama aber sicher gebracht haben: Der Dalai Lama hat viel von Mitgefühl gesprochen. Wenn die Teilnehmerinnen und Teilnehmer nach diesen Tagen aus dem Hallenstadion gehen und für sich selber den Wert des Mitgefühls entdecken oder wieder entdecken, dann ist ein Anliegen erfüllt, das auch der christlichen Religion sehr wichtig ist.

Betont wurde auch immer wieder, die Präsenz des Dalai Lama in der Schweiz könnte eine Herausforderung für das Christentum sein.
Auf jeden Fall. Wir müssen uns schon überlegen, warum eine solche Figur eine derartige Popularität geniesst. In meinen Augen werden hier aus einer gewissen spirituellen Obdachlosigkeit heraus Sehnsüchte gestillt. Das schaffen die Landeskirchen offensichtlich nicht mehr, was sich auch im Zustrom zu den Freikirchen zeigt. Da müssen sich die beiden grossen Kirchen schon überlegen, was bei ihnen falsch läuft.

Interview: Matthias Müller*

Das Gespräch ist am 8. August als Interview bei Radio kath.ch, dem Internet-Radio der Schweizer Katholikinnen und Katholiken, aufgeschaltet worden. Es kann im Internet abgerufen werden über die Adresse: www.radio.kath.ch/detail.php?nemeid=45315
*Matthias Müller (33) ist Redaktionsleiter von Radio kath.ch.

Christian Ruch (37) ist Historiker und wohnt in Zürich. Er ist Mitglied der katholischen Arbeitsgruppe "Neue religiöse Bewegungen" und war bis vor zwei Jahren Sekretär der Gesellschaft Schweizerisch-Tibetische Freundschaft. Zuvor war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg ("Bergier-Kommission").

Datum: 13.08.2005
Quelle: Kipa

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