Sehender Glaube

Sehen können ist etwas Wichtiges im Leben. Das merken wir spätestens dann, wenn wir eines Tages die Zeitung nicht mehr recht lesen können, wenn die Verkehrssignale verschwimmen oder wenn sich eine Nachbarin beklagt, wir hätten sie gestern unterwegs nicht gegrüsst.

Dass Sehen können etwas ganz Wichtiges im Leben ist, zeigt uns auch die Erzählung aus dem Leben Jesu, wie er einen blinden Bettler wieder sehend macht. Der Bettler ist blind. Er ist sich dessen bewusst, und er leidet wohl auch darunter. Wie er hört, dass Jesus vorüber geht, ergreift ihn eine Sehnsucht und er beginnt laut zu schreien: „Jesus Sohn Gottes, erbarme dich meiner!“ Jesus bleibt stehen, ruft ihn vom Strassenrand her zu sich und fragt ihn: “ Was soll ich für dich tun?“ Dieses Angesprochen-Werden Jesu weckt in ihm Vertrauen, und er wagt seine tiefste Bitte zu formulieren: „Ich möchte wieder sehen können!“ Jesus sagt zu ihm: „Geh! Dein Glaube hat dich geheilt!“ Sofort kann er wieder sehen und folgt Jesus auf seinem Weg.

Bei dieser Geschichte geht es also nicht einfach um eine Wundergeschichte oder um körperliche Heilung, so wichtig diese auch ist. Im Zentrum steht der Glaube des Bettlers an Jesus Christus. Und so geht es auch um unseren Glauben. Der blinde Bettler glaubt, dass Jesus ihm helfen kann. Er geht aus der Begegnung als „Sehender“ heraus. Ihm gehen die Augen auf. Er gewinnt einen neuen Blick für das Wesentliche im Leben und kann Jesus nachfolgen.

Daran wird deutlich: Der Glaube schärft den Blick und macht Menschen sehend. Ein Theologe nennt dies eine „Mystik der offenen Augen“. Er will damit sagen: Die Begegnung mit Christus und die Gotteserfahrung sind nicht Selbstzweck. Es geht nicht nur darum, sich selber wahrzunehmen, nur nach innen zu schauen, sondern auch nach aussen. Die Mystik der offenen Augen ist sensibel für die Realitäten der andern, für die Leidenden, Entrechteten und an den Rand Gedrängten.

Darum sind die Kriterium für unseren Glauben: Macht er uns sehend? Haben wir stärkere Augen und ein tieferes Augenlicht für das Wesentliche des Lebens? Macht er uns sehend für die Not der Menschen um uns, für das Gebot der Stunde, für den Anruf Gottes im Alltag unseres Lebens?

Datum: 30.09.2008
Autor: Roman Angst
Quelle: Bahnhofkirche Zürich

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