«Netzwerktagung» in Zürich

Beratung mit der Weisheit der Wüstenväter

Wie wird Beratung und Seelsorge in zwanzig Jahren aussehen? Was kann die heutige Psychotherapie von den Wüstenvätern* lernen? Zu diesen beiden Fragestellungen führten fünf evangelische Dachverbände am Samstag um zweiten Mal eine „Netzwerktagung“ in Zürich durch.
Den Erkenntnisschatz der frühen Mönche heben: Daniel Hell.
Die Zivilgesellschaft stärken: Hans Ruh.
Teilnehmende der Netzwerktagung beim Pausenkonzert.

Die Beratungsgespräche, welche die altkirchlichen Wüstenväter mit Hilfe suchenden Menschen ihrer Zeit geführt haben, weisen erstaunliche Parallelen zu Methoden in der modernen Psychotherapie auf. Daniel Hell, Professor für klinische Psychiatrie und Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, erläuterte vor einem Fachpublikum am 15. September die Konsequenzen dieser Ansicht für heutige „Bewohner der Stadtwüsten“. Gerade für depressive Menschen hätten die Wüstenväter seelsorgerliche Anweisungen entwickelt, die sehr individuell auf die damaligen Ratsuchenden ausgerichtet waren und doch zeitlose Gültigkeit beanspruchen können.

Existenzielle Erfahrungen und zeitlose Beratung

Die Wüstenväter der Spätantike, deren Weg radikal nach innen führte, machten starke existenzielle Erfahrungen, die auch von Suchtverhalten und Konkurrenzangst geplagten Menschen helfen können. Auch damals seien viele Menschen zu ihnen gekommen, die wir heute als säkular bezeichnen würden, so Hell. Geplagt von Depressionen, die den Wüstenvätern selbst sehr bekannt waren und damals mit dem Begriff „Akedia“ umschrieben wurden, erhofften sie sich von ihnen ein entscheidendes Wort. Mit den gleichen Bedürfnissen kamen Menschen, die nach lange unerfüllten Wünschen frustriert waren und Frustration und Zorn nun gegen sich selbst richteten.

Von Evagrius Ponticus ist eine fünfteilige Regel überliefert, wie mit Frustration, Enttäuschung und Niedergeschlagenheit umgegangen werden kann. Dazu gehören Anweisungen, die durchaus modern klingen und auch in der heutigen Psychotherapie Anwendung finden: zum Beispiel die Situation annehmen und ausharren, negative Gedanken durch positive ersetzen, der Trauer und andern Emotionen Raum geben, einen geregelten Lebensrhythmus finden. Und schliesslich: sich über die eigene Sterblichkeit bewusst werden – um das eigentlich Wichtige im Leben zu entdecken.

Börsentaugliche Beratungsarbeit

Hans Ruh, emeritierter Professor für Sozialethik an der Universität Zürich, stellte sich der Aufgabe, einen prophetischen Blick auf die Zukunft der Beratung zu vermitteln. Er unterschied zwei aktuelle Tendenzen: Einerseits werde im globalisierten Dorf ohne gemeinsame Werthaltungen und Regeln immer mehr Beratung gebraucht, andererseits würden die Mittel, sie zu bezahlen, immer knapper. Grösser würden dagegen die Ansprüche und Hoffnungen der Ratsuchenden. Immer mehr verschiebt sich die Beratungsarbeit auch in kommerzielle Institutionen.

Der grosse und der kleine Film

Der sich abzeichnende Engpass an Dienstleistungen im Beratungsbereich erfordert laut Ruh eine Stärkung der Zivilgesellschaft, einen obligatorischen Sozialdienst und einen zweiten Arbeitsmarkt. Ruh prägte in seinem Referat des Bild des grossen und des kleinen Films. Den grossen Film erleben wir als globalen Markt mit allen seinen negativen Auswirkungen auf Schöpfung und Menschen (Umweltzerstörung, Rücksichtslosigkeit, Verunsicherung der Menschen, Reicher werden reicher, Arme ärmer).

Daneben sieht Ruh aber auch bereits den kleinen Film anlaufen: Gegenkräfte gegen die negativen globalen Kräfte werden stärker. Menschen werden sensibler für Verteilungsgerechtigkeit weltweit, für soziale, ethisch und ökologische Anliegen. Diese Kräfte hätten zum Beispiel bewirkt, dass ein Grossverteiler Produkte kennzeichnet, die mit dem Flugzeug importiert worden sind.

Sollte der Marktwert des ethischen Verhaltens steigen, sind laut Ruh auch neue Finanzierungsmodelle denkbar, die gleichzeitig „die Welt verbessern“ und ökologischen Gewinn bringen könnten. Firmen würden dann in sozialethisch und ökologisch ausgerichtete Beratungsleistungen investieren. Es wäre laut Ruh denkbar, dass solche Beratungs- und Hilfsdienste gar börsentauglich würden, weil ihr Marktwert am Steigen sei.

***

Herausforderungen für Leib, Seele und Geist

Die Wüstenväter kannten aus eigener Erfahrung die „Herausforderungen“ des christlichen Lebens. Eine Quelle spricht von acht Versuchungen in den drei menschlichen Bereichen.

I. Herausforderungen der körperlichen Bedürfnisse
1. Lust am Essen und Trinken („Völlerei“)
2. Besitzstreben (“Habsucht, Geiz“)
3. Sexuelle Begierde („Wollust“)

II. Herausforderungen der seelischen Bedürfnisse
4. Traurigkeit
5. Zorn
6. Ekel, Überdruss

III. Herausforderungen der geistigen Einstellungen
7. Ruhmsucht
8. Stolz

(Quelle: Daniel Hell)

* Mehr über Wüstenväter

Livenet-Vorschau zur Netzwerktagung

Datum: 20.09.2007
Autor: Fritz Imhof
Quelle: Livenet.ch / idea

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