Licht in den Alltag der Strassenkindern von São Paulo

Damaris Kofmehl
Demetri Betts
Favela
Moco

Millionen von Strassenkindern leben in den Slums der südamerikanischen Grossstädte. Ihre Familien können sie nicht ernähren und verstossen sie. Oder sie reissen aus, weil sie daheim geschlagen oder missbraucht werden. So landen sie zwangsläufig auf der Strasse, wo der Alltag erst recht zur Hölle wird. Das schweizerisch-amerikanische Ehepaar Damaris Kofmehl und Demetri Betts kümmert sich um diese Kinder am Rand der Gesellschaft. Vor einigen Monaten wurde das Zentrum von New Chance International eröffnet.

Auf den Strassen von São Paulo werden Kinder zur Prostitution gezwungen, als Botengänger für Drogen missbraucht, von der Polizei als Abschaum der Gesellschaft vertrieben, verfolgt und erschossen oder von Drogendealern erstochen. Aber trotz Mord und Todschlag reichen ihnen Damaris Kofmehl und Demetri Betts die Hand. Trotz alledem bieten sie ihnen eine Mahlzeit und kleiden sie ein.

Doch das Wichtigste: Sie geben ihnen eine Hoffnung, etwas, was ganz neu ist für diese Kinder. Denn in den Slums fragt niemand nach dem Morgen. Es gilt, den heutigen Tag zu überleben. Aber warum gehen die beiden Helfer diesen schweren Weg?

Damaris Kofmehl: vom Zuschauen zum Anpacken

Mit sechs Jahren diktierte Damaris ihrer Mutter die erste Geschichte, da sie selber noch nicht schreiben konnte. Mit fünfzehn schrieb sie ihr erstes Buch, das ein deutscher Verlag gleich in eine Jugendserie umwandelte. 1996 schliesslich reiste die Schweizer Primarlehrerin nach Brasilien. Sie wollte für ein Buch über Strassenkinder recherchieren.

Was mit diesen Nachforschungen begann, entwickelte sich zu einer Lebensaufgabe. Seit 1997 lebt Damaris Kofmehl nun in Brasilien und hat seitdem in verschiedenen Strassenkinderprojekten mitgearbeitet sowie neue Projekte selbst gegründet.

Die Leitung des Projekts „Drei Herzen“ übergab sie Anfang 2002 der Heilsarmee. Dafür übernahm sie das Controlling des Zahnarztprojekts CHildrenAID. Für ein Buch über Demetri Betts reiste sie Ende 2002 nach Amerika - und nach drei Wochen heirateten die beiden.

Heute lebt Damaris Kofmehl mit ihrem Mann in São Paulo, leitet die Organisation New Chance International und schreibt weiterhin Bücher: bewegende Lebensbilder. Nicht weniger als 15 sind es bislang. Ausser im deutschsprachigen Raum zirkulieren sie auch in England, Australien, Frankreich, Holland und Brasilien.

Demetri Betts: Auf der Strasse hingekniet

Demetri Betts hat mehrere christliche Organisationen und Gemeinden gegründet, inklusive „Firestarter International“. Seine „Karriere“ ist erstaunlich: Im Gefängnis geboren, lebte er später als verwaister drogenabhängiger Jugendlicher - und hatte schliesslich in den USA Erfolg als Sänger und Gründer einer Rave-Disco.

Als er in Gefahr stand, sich das Leben zu nehmen, lernte er in einer Vision Gott kennen. Die Kraft von Christus brachte ihn dazu, sich auf der Strasse hinzuknien und zu beten. Der Himmel öffnete sich, und Gott gab seinem Leben eine Bestimmung und einen Sinn. Seit Demetri von Gott auf grossartige Weise beschenkt wurde, benutzt er sein aussergewöhnliches Talent, den Gesang, um Gottes Wort weiterzugeben.

New Chance International

Das Strassenkinderprojekt von New Chance International muss mit extremen Schwierigkeiten zurechtkommen: Die Kinder, an die es sich wenden will, sterben nicht an Hunger, sondern werden ermordet. Allein zwischen Januar und April 2003 wurden drei vom Team betreute Kinder umgebracht.

Ein Junge war gerade erst zwei Wochen auf der Strasse, als er erschossen wurde. Ein Mädchen hatte mit Drogenhandel zu tun und wurde gnadenlos abgeknallt. Und ein weiterer Jugendlicher bekommt Todesdrohungen, weil er sich weigert, kriminell zu werden …

Inmitten dieser trostlosen Situation ist das New Chance Team dabei, Hoffnung zu säen. Es spornt die Kinder dazu an, gegen Gewalt, Drogen und Kriminalität anzukämpfen und ein neues Leben zu beginnen. Viele von ihnen haben bereits aufgehört mit den Drogen und stattdessen begonnen, Verantwortung für sich und für die anderen der Gruppe wahrzunehmen. Wem es möglich war, der ist auch nach Hause zurückgekehrt.

Vier Einzelschicksale

Das New Chance Team ist längst nicht mehr von der Praca da Se in São Paulo wegzudenken. Sogar die Polizei, die anfangs ziemlich skeptisch war, respektiert nun die Arbeit mit den Kids. Sobald das Team auftaucht, strömen die Kinder von allen Seiten herbei. Ihr Vertrauen zu den Mitarbeitern ist so gross, dass sie ihnen alles ganz offen erzählen, was auf der Strasse abgeht.

Sara (19 Jahre). Ihr Vater begann zu trinken, als sie noch klein war, und schlug dann jeweils auf die Kinder ein. Sein grösstes Opfer war Sara. Als sie vier Jahre alt war, schlug er sie mit Fäusten und Fusstritten in den Bauch. Sie ertrug das Leiden schweigend, bis sie sieben Jahre alt war. Da hielt sie den Schmerz nicht mehr aus, und man brachte sie ins Spital. Sie musste sich einer Operation unterziehen. Durch die Schläge waren wichtige innere Organe verletzt worden. Sara wird deshalb nie Kinder haben können. Aber sie wünscht sich ein würdiges Leben weit weg von der Strasse.

Rahel (19). Sie kommt aus Bauru, wo sie eine kleine Tochter zurückgelassen hat. In keinem der täglichen Gottesdienste fehlt sie, ob es nun regnet oder ob die Sonne scheint.

Camila (14). Virgilio, ein Mitarbeiter, lernte Camila vor acht Jahren kennen. Damals war sie sechs. Heute, mit 14, ist sie abgemagert und drogenabhängig, gezeichnet vom harten Leben auf der Strasse. Virgilio schrieb in seinem täglichen Bericht: „Wie traurig es ist, Kinder in diesem Zustand zu sehen. Nur Gott kann diese Leben verändern. Daran glaube ich.“

Tuca (13). Sie ist die Anführerin einer Gruppe von Strassenkindern. Am Abend des 26. Februar 2003 erscheint auf dem Platz ein erwachsener Mann, schnappt sich ein fünfjähriges Mädchen aus Tucas Gruppe und vergewaltigt es an Ort und Stelle. Machtlos rennen die anderen Kinder los und holen ihre Anführerin. Als Tuca hört, was geschehen ist, rastet sie aus und erschiesst den Täter.

Hoffnung weitergeben

Vier Kinderleben auf São Paulos Strassen. Täglich ist das Team dort unterwegs, um mit den Kindern Kontakte zu knüpfen. In der Zentrale, unweit des Stadtzentrums, erhalten sie psychologische und geistliche Betreuung und werden an Heime, Schulen und für Kurse weitervermittelt.

Keine zwei Wochen nach Eröffnung von New Chance in São Paulo merkte das Team allerdings, dass es nicht genügt, wenn es nur auf die Strasse geht und mit den Kindern plaudert. Die Strassenkinder begannen von sich aus, die Zentrale aufzusuchen. New Chance bot den Kids also an, jeden Morgen um neun Uhr in die Zentrale zu kommen: zum Duschen, Frühstücken und für einen Gottesdienst mit dem Team.

Schon am ersten Tag scharten sich 12 Kinder in dem kleinen Raum. Innert kürzester Zeit stieg ihre Zahl auf 38. Der Raum wurde zu eng, und die Leitung beschloss, eine Wand einzureissen und so genug Platz zu schaffen. Bis heute bleibt das morgendliche Angebot bestehen, und sogar im grössten Regen kommen Kinder pünktlich auf die Minute, um keinen Gottesdienst zu verpassen.

Datum: 07.10.2003
Autor: Iris Muhl
Quelle: revolution-one.ch

Werbung
Livenet Service
Werbung