WTO-Gipfeltreffen in Cancún zwischen Gerede und Wahrheit

WTO

Seit Mittwoch tagt im mondänen mexikanischen Seebad Cancún die 5. Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation (WTO). Der fünftägige Verhandlungsmarathon zielt auf eine Vertiefung des globalen Freihandels (so genannte «Dauha-Runde», benannt nach dem ersten Konferenzort vor zwei Jahren).

Welche Brücke über den tiefen Graben?

Die Lage der Weltwirtschaft sei schwierig, sagte der WTO-Generalsekretär Supachai Panitchpakdi bei der Eröffnung; ein Misserfolg des Treffens würde ihr einen schweren Schlag versetzen. Die Bemühungen um eine tiefergehende Liberalisierung des Agrarhandels dürften nicht scheitern; es müsse sich in Cancun zeigen, dass die Dauha-Runde erfolgreich und termingerecht (Ende 2004) abgeschlossen werden könne.

Laut der NZZ ist der „Graben zwischen den Befürwortern und Gegnern eines forscheren Liberalisierungstempos in der Landwirtschaft unvermindert tief“. Die EU (und Frankreich im besonderen) subventioniert die eigenen Bauern in einer Weise, die den Handel verzerrt.

Daher haben sich Entwicklungsländer zusammen mit Brasilien und Indien zu einem Verbund zusammengeschlossen, der die Erfüllung der in Dauha gemachten Zusagen fordert. Auch die USA, die mit der EU in mehrere Handelsstreitigkeiten verwickelt ist, steht am Pranger, wegen Milliardensubventionen im Baumwollbereich.

Deiss: ‚Unterschiedliche Arten der Landwirtschaft‘

Am Mittwoch sprach auch Bundesrat und Wirtschaftsminister Joseph Deiss zu den 5000 Delegierten der WTO-Ministerkonferenz. Der Umbau der Landwirtschaft, den die WTO anstrebe, müsse für die Schweiz sozial verträglich sein. Die Schweiz sei zu echten Konzessionen bereit, fordere aber, dass bei den Agrarverhandlungen das Nebeneinander von unterschiedlichen Arten der Landwirtschaft anerkannt werde. Der derzeit vorliegende Textvorschlag sehe eine zu weit gehende Öffnung der Märkte vor.

Bei Marktöffnung für Industrieprodukte setze sich die Schweiz für einen substanziellen Abbau der Zölle ein, sagte der Schweizer Wirtschaftsminister. Einen verstärkten Einsatz für den Personenverkehr fordert die Schweiz beim Handel mit Dienstleistungen. Deiss regte auch an, Verhandlungen über Handel und Umweltfragen zu verflechten.

Demonstranten gegen Polizei

Die Minister und ihre Beamten tagen unter starkem Polizeischutz. Die Konferenz wurde bereits am ersten Tag von gewaltsamen Ausschreitungen überschattet. An einer Demonstration von rund 20'000 Globalisierungsgegnern und Vertretern der Bauernbewegungen flogen Steine und Flaschen.

Demonstranten versuchten, auf das hermetisch abgeriegelte Tagungsgelände vorzudringen. Wie die Behörden mitteilten, kletterte ein südkoreanischer Bauer auf einen Zaun und stiess sich ein Messer in die Brust. Er starb später im Krankenhaus.

Zollschranken für Baumwolle aus Afrika

Der grosse Streitpunkt der WTO-Konferenz sind die ins Stocken geratenen Agrarverhandlungen. Es geht darum, welche Absatzchancen Produkte aus armen Ländern in Industrie- und Schwellenländern haben. Am Mittwoch noch hatten Vertreter der 49 am wenigsten entwickelten Länder der Erde in Brüssel dramatische Handelsverzerrungen durch Agrar-Subventionen in der EU und den USA beklagt. Dadurch entstünden alleine in vier afrikanischen Staaten im Baumwollbereich seit 1998 jährlich Einnahmeverluste in Höhe von 345 Millionen Franken, sagte der Vorsitzende der Staatengruppe und Präsident von Bénin, Mathieu Kerekou.

In Bénin, Tschad, Mali und Burkina Faso macht die Baumwolle 60-80 Prozent der Agrarexporte aus (5-10% des Bruttoinlandsproduktes). Der Baumwollanbau sei ausgeweitet und Strukturreformen durchgeführt worden – jedoch fänden die Agrarprodukte nicht wie gewünscht Absatz, weil die reichen Länder die Produktion und den Export ihrer Baumwolle subventionierten.

Europas Kühe

Vor kurzem hatte die Weltbank die Aussichten der Entwicklungsländer in ihrem Jahresbericht beschrieben. Er ist laut der NZZ „voller haarsträubender Fakten“. So führen staatliche Tarifspritzen dazu, „dass man in Europa jede Kuh im Durchschnitt mit 2.50 Dollar pro Tag unterstützt, verglichen mit den 2 Dollar pro Tag, mit denen gut die Hälfte der Weltbevölkerung auszukommen hat. Letzteres hat unter anderem zur Folge, dass die jährlichen Zollzahlungen der Mongolei an die USA betragsmässig denen Norwegens kaum nachstehen, obwohl der entsprechende Ausfuhrwert bloss 3% der norwegischen Exporte in die USA ausmacht.“

Der mexikanische Präsident Fox rief den Delegierten die Armut von vielen Millionen Menschen in Erinnerung. Uno-Generalsekretär Kofi Annan forderte die Industrieländer zu einem fairen Verhalten während der fünftägigen Gespräche auf. Das weltweite Handelssystem halte derzeit nicht, was es versprochen habe.

Schweizer Kampagne "Handel für Menschen"

Schweizer Entwicklungsorganisationen und landeskirchliche Kreise hatten im Vorfeld von Cancun zahlreiche Forderungen aufgestellt. Am 1. September starteten sie in Bern die Kampagne "Handel für Menschen", wie die Nachrichtenagentur KIPA berichtete. Damit soll das Bewusstsein dafür gefördert werden, dass der Welthandel „faire Regeln“ braucht.

Die Hilfswerke Fastenopfer und Brot für alle inszenierten im Bahnhof Bern ein Fussballspiel zwischen Industrieländern und Entwicklungsländern. Während die Spieler vom Team Industrieländer, unter anderem mit den Berner Sportgrössen Erich Hänzi und Roberto Triulzi, mit optimaler Sportausrüstung um den Ball kämpften, mussten sich der chinesischstämmige Schweizer Olympiasieger in Leichtathletik, Donghua Li, einer der Spieler des Teams Entwicklungsländer, mit Wanderschuhen, schweren Rucksäcken und Gewichten herumschlagen.

Eindeutig unfair

Als ob das nicht genug wäre, pfiff der Schiedsrichter, der symbolisch die Welthandelsorganisation WTO repräsentierte, klar parteiisch. So ahndete er kein einziges Foulspiel der Industrieländer, und die Entwicklungsländer mussten eine gelbe Karte fürchten, wenn sie den Ball nur schon berührten. Das Spiel wurde politisch kommentiert von SP-Nationalrat Rudolf H. Strahm.

Das Resultat musste eindeutig ausfallen: 10 zu 0 für den Norden. Die (gar einfache) Botschaft der Hilfswerke ebenso: Würden Regeln wie im Fussball eingehalten, wäre das Spiel der Kräfte im Handel ausgeglichen und der Süden könnte seine Chancen wahrnehmen. Die landeskirchlichen Hilfswerke, Dritt-Welt-Organisationen und Gewerkschaften lehnen die WTO-Verhandlungen ab und haben den Bundesrat aufgefordert, dass sich die Schweiz in Cancun insbesondere für die Anliegen der armen Länder einsetzen solle.

Handel – nicht ohne Menschenrechte und Umweltfragen zu gewichten

Das Fussballspiel diente zur Lancierung der auch in in Grossbritannien, Deutschland und Norwegen durchgeführten Welthandelskampagne "Handel für Menschen". Dahinter steht das Globale Aktionsbündnis des Ökumenischen Rates der Kirchen. Gemäss Christoph Stückelberger, Zentralsekretär von Brot für alle, wollen die Kirchen und Organisationen erreichen, dass vorrangig Menschenrechts- und Umweltprinzipien und nicht rein kommerzielle Interessen den internationalen Handel prägen.

Der Handel soll nicht um seiner selbst oder allein um des Profits willen betrieben werden, sondern im Dienste der Armutsbekämpfung und der nachhaltigen Entwicklung stehen. Antonio Hautle, Direktor des Fastenopfers, führte die Vision eines fairen, gerechten Welthandels aus: "Beseitigung des Hungers und Halbierung der Armut auf unserem Planeten sowie eine gerechtere Güterverteilung – Ziele der UN-Millenniumsdeklaration, die möglichst schnell umgesetzt werden müssen."

Welthandel wie Fussball?

"Was hat der Fussball mit dem Welthandel zu tun", fragte sich wohl nicht nur der ex-SCB-Spieler Renato Triulzi. Aber er fügte an, dass es, wenn man genauer hinschaue, durchaus Ähnlichkeiten gebe. "Denn es gibt ja auch in der Wirtschaft klare Spielregeln. Nur müssen sich die Entwicklungsländer mehr und die Industrieländer weniger daran halten."

"Entwicklungsländer und Industrieländer fechten immer noch mit ungleich langen Spiessen, obschon an der letzten Ministerkonferenz der WTO 2001 eine so genannte Entwicklungsrunde ausgerufen worden war", bemerkte Heiner Studer, EVP-Nationalrat und Präsident von Brot für alle. Der Bund habe zumindest verbal die richtigen Weichen gestellt, doch nun sollten in Cancun Taten folgen.

Frauen in Unterzahl

Auch Frauen waren auf dem Sportfeld vertreten – in Unterzahl. Bei der Liberalisierung im Welthandel gehörten Frauen je länger je mehr zu den Verliererinnen, sagte die grüne Nationalrätin Franziska Teuscher mit Verweis auf die Privatisierung der Wasserversorgung in zahlreichen Entwicklungsländern; diese bürde den Frauen immer mehr Arbeit auf.

Nicht ohne Appell an Cancun bleiben wollte auch ein Seminar, das am Mittwoch in Genf stattfand, vom Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK), dem Lutherischen Weltbund, dem Reformierten Weltbund und der Konferenz Europäischer Kirchen organisiert. "Die ökumenische Gemeinschaft setzt sich mit der Ministerrunde in Cancun mit einem Verständnis der Handels- und Entwicklungsfragen auseinander, das in einer sprituellen, moralischen und ethischen Perspektive verwurzelt ist", schrieben die Kirchenvertreter – sozusagen in letzter Minute – in ihrer Botschaft.

Ist freier Handel unfairer Handel?

Unter diesem Titel entgegnete der Leiter der Wirtschaftsredaktion der Neuen Zürcher Zeitung, Gerhard Schwarz, letzte Woche den Globalisierungskritikern. ‚Fairer Handel‘ sei ein zwar populäres, aber anmassendes und irreführendes Schlagwort. „Anmassend ist es, weil es suggeriert, der überwiegende Teil des Handels sei unfair: Nur jener Handel, der ganz bestimmten sozialen und ökologischen Restriktionen unterworfen und entsprechend weniger frei wäre, gälte demzufolge als fair.“

Schwarz stellt heraus, dass „nach aller Erfahrung freier Handel fairer Handel ist“. Freier Handel setze nicht gleiche Wirtschaftsmacht voraus: „Aus der Tatsache, dass Handel zwischen ökonomisch ungleichen Partnern stattfindet, kann genauso wenig auf ungenügende Fairness geschlossen werden wie aus der Tatsache, dass Menschen zu sehr niedrigen Löhnen arbeiten oder lange Arbeitszeiten auf sich nehmen.“

Arme Länder, schreibt Schwarz mit Bezug auf den früheren mexikanischen Botschafter in den USA, Jesus Reyes-Heroles, können „nicht zwischen schlecht bezahlten Jobs und gut bezahlten Jobs wählen, sondern nur zwischen schlecht bezahlten oder gar keinen Arbeitsplätzen“.

Datum: 12.09.2003
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

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