Suizid: Die offizielle Schweiz schweigt noch

Durch die Hölle
Hansjörg Leutwyler
Thomas Zeltner

In der Schweiz sterben pro Jahr doppelt so viele Menschen an Suizid wie an Verkehrsunfällen. Und auf jeden der 1300 bis 1400 Suizide kommen 10 bis 15 Suizidversuche. Trotzdem unternimmt der Bund in der Suizidprävention bis jetzt fast gar nichts. Warum dies so ist, erklärte im Juni der Chef des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) in einem Brief an die Schweizerische Evangelische Allianz.

Der Ton des Briefes ist freundlich, der Inhalt ernüchternd: Der Bund ist nicht bereit, Kampagnen zur Suizidprävention zu unterstützen. Dies, obwohl er für solche Präventionsmassnahmen im Grunde einen Handlungsbedarf sieht. In seinem Brief an die Schweizerische Evangelische Allianz (SEA) vom 12. Juni erklärte Thomas Zeltner, Direktor des Bundesamtes für Gesundheit, dass es das Gesetz dem Bundesamt nicht erlaube, Kampagnen zur Suizidprävention durchzuführen oder Dritte dabei finanziell zu unterstützen.

SEA will mitreden

Die Schweizerische Evangelische Allianz ist von der Antwort des Bundes nicht überrascht, aber enttäuscht. «Schade, dass der Bund in der Suizidprävention nicht stärker handeln will, obwohl er den Missstand erkannt hat», sagt SEA-Zentralsekretär Hansjörg Leutwyler. Jedenfalls wolle die SEA die politische Entwicklung zum Thema Suizidprävention weiter verfolgen und möglichst mitbeeinflussen, sagt Leutwyler. Kampagnen stellten als «verhaltenslenkende Information» nämlich eine wichtige Einflussmöglichkeit der Bundesbehörden auf die Bevölkerung dar, ist das BAG überzeugt. Aber gerade für solche Kampagnen fehlten im Bereich der Suizidprävention die spezialgesetzlichen Grundlagen.

Hohe Zahlen, hohe Kosten

Diese Argumentation ist problematisch. Vor zwei Jahren wurde ein Bericht vorgelegt, den das Bundesamt aufgrund eines Postulats von Nationalrat Hans Widmer im Jahre 2002 verfasst hatte. Dieser Bericht beinhaltet erschreckende Tatsachen: Die Suizidrate ist in der Schweiz im internationalen Vergleich eine der höchsten. Pro Jahr nehmen sich in unserem Land 1300 bis 1400 Menschen das Leben. Das sind mehr Menschen als jährlich an Verkehrsunfällen, Drogenkonsum und Aids zusammengerechnet sterben. Auf jeden Suizid kommen 10 bis 15 Suizidversuche - die Dunkelziffer dürfte hier noch höher sein.

Handlungsmöglichkeiten

Der Befund ist auch problematisch, weil die Massnahmen gegen den Suizid bekannt wären. Der Staat ist nicht machtlos, sondern könnte etwas tun, um die Suizidrate zu senken. Vor allem geht es dabei um die Stärkung der psychischen Gesundheit, die durch bekannte Public-Health-Massnahmen (Einwirkung auf die Lebens- und Umweltbedingungen der Bevölkerung oder von Bevölkerungsteilen) und durch Health-Care-Massnahmen (Verbesserung der medizinischen Versorgung) erreicht werden könnte.

Zu den Public-Health-Massnahmen, die in der Schweiz noch zu wenig realisiert werden, gehören Aufklärungsarbeit über psychische Gesundheit und Krankheit, Präventionskampagnen an Schulen, die Schaffung von niederschwelligen Anlaufstellen oder das Erschweren des Zugangs zu Tötungsmitteln wie Medikamenten, «suicide hot spots» (hohen Brücken, Türme) und Schusswaffen.

Auftrag der WHO

Problematisch ist das Zuwarten der Schweiz auch, weil die Weltgesundheitsorganisation (WHO) von den Staaten eine aktive Suizidpräventionspolitik fordert. Nach dem Rahmenkonzept der WHO soll sich beispielsweise die psychische Gesundheit der Bevölkerung deutlich verbessern, und Personen mit psychischen Problemen sollten bessere Hilfsangebote zur Verfügung stehen. «Die Suizidraten sollten um mindestens ein Drittel zurückgehen, wobei die signifikantesten Verringerungen in den Ländern und Bevölkerungsgruppen mit derzeit hohen Suizidraten erreicht werden sollten.»

Diese Ziele sind den Gesundheitsverantwortlichen der Schweiz bekannt, und niemand stellt sie öffentlich infrage. Als das BAG im Frühjahr 2006 den Vorschlag für ein Nationales Forschungsprogramm zum Thema «Psychische Gesundheit als gesellschaftliche Ressource» einreichte, stufte das für die Forschungsprogramme zuständige Staatssekretariat für Bildung und Forschung das Projekt als «nicht prioritär» ein. Beim BAG hofft man nun darauf, in den nächsten Jahren bessere gesetzliche Grundlagen zur Prävention und Gesundheitsförderung zu schaffen und dabei auch die Bekämpfung von psychischen Krankheiten einzuschliessen. Bis dahin bleibt BAG-Chef Thomas Zeltner nichts anderes übrig, als Organisationen wie der Schweizerischen Evangelischen Allianz in einem freundlichen Brief «für Ihr grosses Engagement in der Suizidprävention» zu danken.

Datum: 21.08.2007
Autor: Thomas Hanimann
Quelle: ideaSpektrum Schweiz

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