Kommentar

Wahlherbst und erzwungene Lügen

Für die Wahlen vom nächsten Wochenende will jeder National- und Ständeratskandidat sich noch ins beste Licht rücken. Sagen die Politiker dabei immer die Wahrheit? Kann man ihren Parolen trauen? Dazu hat sich Rechtgsanwalt Christoph Wyss Gedanken gemacht.
Ueberarbeitet
Christoph Wyss

Vorab alltägliche Situationen. Ich sitze am PC, werde aufgefordert, ein nützliches Dienstprogramm auf den neuesten Stand zu bringen und komme nicht weiter, ohne bestätigt zu haben, dass ich die Änderungen der allgemeinen Geschäftsbedingungen gelesen und akzeptiert habe. Kennen Sie jemanden, der sich die neue, ausschliesslich in englischer Sprache vorliegende Version ausdruckt, sie liest, restlos begreift? Das System zwingt uns zu einer Lüge.

Arbeitsüberlastung?

Während Jahren hat mir die Steuerverwaltung ein falsches Formular geliefert. Ich habe es Jahr für Jahr abgeändert, berichtigt. Und mich jedes Mal gefragt: Wie viele meiner Mitbürger würden das Gleiche tun? - Als Anwalt stelle ich bei Gericht ein Fristverlängerungsgesuch (zur Einreichung eines Schriftsatzes), im Verkehr zwischen Anwälten und Gerichten ein alltäglicher Vorgang. Die wahrscheinlichsten Gründe für Fristverlängerungen:

Die Zeit reicht nicht für die aufwändige Niederschrift; Klient und Anwalt brauchen mehr Zeit, um Beweismittel zu beschaffen; und nur zu oft ist es schlicht schlechtes Time-Management. Nur: Von diesen Gründen liest das Gericht selten oder nie, dafür umso mehr von beruflich bedingten Auslandaufenthalten, unaufschiebbaren Verpflichtungen, Militärdienst, Krankheiten und anderen aufwändigen Gerichtsverhandlungen. Statt von schlechter Planung wird von Arbeitsüberlastung gesprochen.

Die Schwierigkeit mit Unwahrheiten

Es ist gar nicht einfach, solchen Unwahrheiten aus dem Weg zu gehen. Oft bin ich zeitlich gar nicht in der Lage, allgemeine Geschäftsbedingungen wirklich zu lesen. Formulare abändern, nur weil irgendwo irgendjemand sich geirrt hat, ist auf die Dauer nicht spannend, und dem Gericht schreiben, dass man nicht rechtzeitig geplant hat, ist auch irgendwie unmöglich, oder? Beim «update» und der geforderten Bestätigung, dass ich die Geschäftsbedingungen gelesen habe, weiss ich nach wie vor keinen guten Rat. Ich kann Ihnen auch nicht raten, um der Wahrheit willen keine «updates» mehr zuzulassen.

Mit andern Worten: Auf diesem Gebiet habe ich mehr oder weniger resigniert. Bei vielen anderen Situationen habe ich jedoch gute Erfahrungen gemacht, schlicht die Wahrheit zu sagen, auch wenn mir dies kein gutes Zeugnis ausstellt. Keine Ausflüchte: Ich habe schlicht vergessen, diesen Brief zu schreiben, jenen Anruf zu machen. Erstaunlicherweise bin ich in aller Regel auf Verständnis gestossen. Und hie und da hat sich ein gutes Gespräch ergeben.

Scheinbare Alleswisser

Wahlherbst und erzwungene Lügen. Schade, dass so wenige Kandidaten den Mut aufbringen, bei Fragen eines Interviewers schlicht zu sagen: «Das weiss ich nicht, dazu habe ich keine Antwort.» Hut ab vor jenen Kandidaten, die nicht alle Antworten haben, und die ehrlich dazu stehen: «Nein, dazu habe ich mir noch keine Meinung gebildet.» Bern braucht nicht scheinbare Alleswisser sondern Menschen, die ehrlich zu ihren Grenzen stehen. An uns aber liegt es, sie nicht zu Lügen zu zwingen.

Diesen Artikel hat uns Ideaschweiz zur Verfügung gestellt.

Der Autor Christoph Wyss ist Rechtsanwalt und Präsident der Internationalen Vereinigung Christlicher Geschäftsleute (IVCG). Er wohnt in Bern.

Datum: 17.10.2011
Autor: Christoph Wyss
Quelle: ideaschweiz

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