9. Thuner Politlunch

Wie mit Flüchtlingsströmen umgehen?

Die christliche Parteien EDU und EVP haben in Thun bereits zum 9. Mal zum «Politlunch» eingeladen. Am 13. Januar trafen sich etwa 60 Interessierte aus Politik und Gesellschaft zum Lunch in Gwatt und berieten die Herausforderungen der Asylströme in Europa.
Die Hauptreferenten des Thuner Politlunchs: Kathrin Anliker und Christoph Curchod.
Thuner Politlunch
Kathrin Anliker

Christoph Curchod, Leiter Migrationsanalyse beim Staatssekretariat Migration (SEM), gab Hintergrundinformationen: das Jahr 2015 hat der Schweiz etwa 39'000 Asylsuchende gebracht, je die Hälfte davon grob über die beiden Haupt-Asylkorridore Türkei-Griechenland und Lybien-Italien. Der Mittelmeer-Korridor ist dabei für die Schweiz weitaus bedeutender als die Balkanroute, auf der die allermeisten Flüchtlinge nach Deutschland oder weiter in den Norden wollen. Fast ein Drittel der Asylsuchenden stammt aus Eritreia, an zweiter und dritter Stelle liegen Afghanistan (5'848) und Syrien (3'949). Die Schweiz nimmt Flüchtlinge u.a. auf der Basis der Flüchtlingskonvention von 1951 und der europäischen Menschenrechtskonvention auf. Auch das Dubliner Abkommen ist unter den Rahmenbedingungen, wenn Curchod auch festhielt: «Das Schengen-Abkommen ist nicht für Migrationsströme mit hunderttausenden von Menschen gemacht»

Curchod erklärte, dass die staatlichen Stellen sich durchaus bewusst seien, dass eine total offene Flüchtlings- und Willkommenspolitik Menschen in grossen Scharen anziehe, «die sonst nicht gekommen wären». Allerdings sei Europa – zumindest über die Balkanroute – «zu Fuss zu erreichen» und darum nicht abschottbar wie etwa Australien oder die USA.

«Die meisten, die sich engagieren, sind Christen»

In der anschliessenden Diskussion wurden einerseits Sorgen laut, ob die Flüchtlingsströme nicht eine kulturelle Destabilisierung Europas zur Folge oder sogar als Ziel hätten, was Curchod verneinte. Auf der anderen Seite wurde eine grosse Hilfsbereitschaft christlicher Parteien, Gruppen und Einzelpersonen deutlich – was bei gewissen Medien gar nicht immer auf Begeisterung stosse.

Markus Wenger, Präsident der Sicherheitskommission des Grossen Rats, hielt allerdings unmissverständlich fest: «Überall, wo ich hinkomme, sind es Christen, die helfen. Es gibt auch andere, aber die überwiegende Mehrheit derer, die sich privat für Flüchtlinge engagieren, sind Christen» Flüchtlinge kämen oft mit tiefen Verletzungen und vielen Fragen hier an und stellten die Frage nach der Religion ganz von selbst. In Thun hätten Personen, die sich sehr kritisch gegen ein christliches Engagement im neuen grossen Asylzentrum ausgesprochen hätten, gestaunt, als sie realisierten, dass Asylsuchende von sich aus nach Bibeln fragten.

Einsatz für UMAs – unter allen Umständen lohnend

Die EVP hat sich schon seit einigen Jahren massiv für unbegleitete minderjährige Asylsuchende (UMA's) eingesetzt. Auch die Stiftung Pluspunkt z.B. hat 10 dieser UMA's aufgenommen und bildet sie aus, wie Leiter Jonas Baumann erklärte: «Wenn wir sie gut ausbilden und sie gehen vielleicht in ihre Heimatländer zurück, haben wir etwas ganz Wesentliches für diese Länder getan.»

Kritisch wurde festgestellt, dass die private Unterbringung von Flüchtlingen im Kanton Bern noch sehr restriktiv gehandhabt werde. Der Kanton Fribourg etwa habe viel mehr Aslysuchende privat untergebracht, hielt Grossrat Marc Jost fest und versprach, sich in Bern für mehr Möglichkeiten einzusetzen.

«Der häufiste Fehler ist vielleicht das Helfersyndrom»

Die zweite Hauptreferentin des Politlunchs war Kathrin Anliker von der Beratungsstelle für Integrations- und Religionsfragen (BIR), einer Arbeitsgruppe der Schweizerischen Evangelischen Allianz. Mit ihr haben wir uns am Rand des Politlunchs kurz unterhalten:

Livenet: Kathrin Anliker, was konkret beratet und koordiniert die BIR?
Kathrin Anliker: Wir sind eine Arbeitsgruppe der Schweizerischen Evangelischen Allianz, und wir arbeiten schweizweit. Wir unterstützen Christen und Kirchen, die mit Flüchtlingen in Kontakt kommen. Das können ganz verschiedene Fälle sein: etwa ein Iraner, der Christ geworden ist und jetzt ausgeschafft werden soll. Da helfen wir, einen christlichen Anwalt zu finden. Dann vernetzen wir auch die Leute, die mit Migranten selbst unterwegs sind, versuchen zu straffen und Chaos zu reduzieren.

Beratet ihr mehr Kirchen und Gemeinden oder auch Einzelpersonen?
Wir unterstützen auch Einzelpersonen, ganz klar.

Angenommen, es ruft jemand an und sagt «Ich möchte Migranten begleiten. Was kann ich tun?» Was ratet ihr, wie helft ihr?
Ich frage zuerst, wo die Person wohnt. Angenommen, es ist im Aargau: dann vernetze ich sie mit Beratern, die in ihrer Umgebung arbeiten. Dann: ich versuche herauszufinden, was konkret sie machen können. Wir gehen sehr auf die Möglichkeiten und Bedürfnisse der Schweizer ein. Die versuchen wir dann mit den Bedürfnissen von Asylsuchenden in Berührung zu bringen: ah, da ist eine Familie, die Ausflüge machen will? Die bringen wir zusammen.

Was ist am meisten gesucht? Was ist das Wichtigste, was Christen konkret leisten können?
Das Wichtigste – und auch etwas vom Schwierigeren – sind Beziehungen. Kleider geben ist relativ einfach, aber Beziehungen und Freundschaften aufbauen, und zwar längerfristig – das kostet etwas und ist doch sooo wichtig!
Kleider und Geld bekommen sie in der Regel genug, aber persönliche Beziehungen fördern die Integration!
Diese Beziehungen sollen nicht institutionell laufen, das gibt sofort ein Gefälle. Sondern einfach: ich bin Hans, du bist Ali. Christen können Beziehungen auf Augenhöhe aufbauen.

Was sind die gröbsten Fehler, die man machen kann und vermeiden sollte?
Der häufiste Fehler ist vielleicht das Helfersyndrom. Das ist mir selbst passiert. Man hört: die Mutter ist am Sterben in Somalia. Der eine Sohn ist erschossen worden und der andere ist hier. Alle brauchen Hilfe, Wohnung, Arbeit, und überall wird gefragt. Alle Kanäle werden in Bewegung gesetzt, alles läuft parallel – hier müssen wir wirklich aufpassen, dass wir uns nicht im Endlosen verlieren. Da ist es wichtig, nachzufragen: wo hast du schon angefragt, wo bist du schon gewesen? Und dann heisst es, diese Leute zu vernetzen und die Aufgaben sauber einzuteilen.

Wir müssen Hilfe zur Selbsthilfe geben. Also nicht einfach eine SIM-Karte kaufen, sondern mit ihm in den Laden gehen und es möglichst selbst machen lassen. Wohlmeinende Leute tun oft viel zu viel für die Asylsuchenden, dabei gilt es, sie zur Selbständigkeit zu erziehen. Der Ansatz ist schon oft in der Sozialhilfe: hier ist Geld, hier ist eine Wohnung, hier ist alles – und die Empfänger meinen, dass das bei der Arbeit auch so geht.

Dann brauchen wir auch einen langen Atem. Nicht aufgeben, wenn auch nach einigen Monaten noch keine Arbeit da ist.

Zur Webseite:
Flüchtlingen helfen
AGR

Zum Thema:
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Datum: 14.01.2016
Autor: Reinhold Scharnowski
Quelle: Livenet.ch

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