Schuld bezahlen oder neu anfangen?

Merkel und Tsipras – Karfreitag und Ostern

Die griechisch-deutschen Spannungen über den richtigen Umgang mit der Schuldenkrise sind vielleicht kein Zufall, schreibt die Zeitung «The Guardian». Lesen Sie, was Politik mit Karfreitag und Ostern zu tun hat.
Alexis Tsipras und Angela Merkel

Kolumnist Giles Fraser (The Loose Canon) bringt in der Zeitung «The Guardian» einen polit-theologischen Kommentar, der zu weiteren Gedanken anregt. Er schreibt: «Die östlichen orthodoxen Kirchen haben sich im Jahr 1054 endgültig von der westlichen römisch-katholischen Kirche getrennt. Sie haben den julianischen Kalender behalten – darum findet unter anderem in diesem Jahr das orthodoxe Osterfest eine Woche später statt als das westliche. Was noch wichtiger ist: Wegen dieser grossen Trennung ist die orthodoxe Kirche nicht unter den Einfluss einer Erlösungstheorie gekommen, die von dem Theologen Anselm von Canterbury in seinem unglaublich erfolgreichen Buch 'Cur Deus Homo' (Warum Gott Mensch wurde) von 1089 formuliert wurde – ein Buch, das das westliche Verständnis von Ostern radikal veränderte und damit auch einen grossen Teil unseres moralischen Umfelds. Interessanterweise spiegeln die unterschiedlichen Haltungen im Umgang mit der Schuld der Griechen in bemerkenswerter Weise die west-östliche Spaltung der Auffassungen von Ostern wider.

Westen: Das Bezahlungs-Modell

Nach der Auffassung von Anselm – und den Reformatoren nach ihm – ist die Geschichte von Ostern im Grunde Gottes Antwort auf eine Schuldenkrise. Menschen haben gegen Gott gesündigt und darum eine Schuld auf sich geladen, die bezahlt werden muss. (Auch bei Kriminellen redet man ja davon, dass sie ihre Schuld geenüber der Gesellschaft 'abzahlen' müssen.) Nach diesem Modell muss einfach die Gerechtigkeit ausgeglichen werden. Für Verbrechen muss bezahlt werden, und die Strafe muss der Schwere des Verbrechens entsprechen. Das Problem ist, dass unsere Schuld – als elende Sünder – viel zu hoch ist und wir sie nie zurückzahlen können.

Darum, sagt Anselm, ist Jesus gekommen, hat unsere Strafe getragen und wurde gekreuzigt. So hat er an unserer Stelle die Schuld bezahlt und unser Konto wieder ausgeglichen. Erlösung ist also eine wirtschaftliche Metapher – 'kein andrer war gut genug, den Preis der Sünde zu bezahlen'. Für protestantische und evangelikale Christen ist das der eigentliche Kern der Erlösung. Die Sünde ist bezahlt. Halleluja.

Osten: Ausbruch aus dem Gefängnis

Das ist aber absolut nicht die Ostergeschichte der östlichen Kirchen. Keine griechisch-orthodoxe Kirche singt von Jesus, der den Preis für die Sünde bezahlt hat. Sünde steht bei ihnen gar nicht so im Vordergrund. Und sie denken nicht, dass das Leiden Jesu für Schuld «bezahlt». Darum kommt in der östlichen Kunst auch der blutende und gekreuzigte Jesus kaum vor. Für die östliche Theologie hat Jesus Menschen von ihrer Gefangenschaft unter dem Tod freigesetzt. Das Wichtige ist die Auferstehung, nicht primär die Kreuzigung. Wenn am Karfreitag alles schon bezahlt wurde, dann bleibt für den Ostermorgen keine errettende Aufgabe mehr. Nein, sagen die östlichen Theologen, Errettung ist nicht irgendeine blutige kosmische Buchführung, sondern der Ausbruch aus einem Gefängnis. Die Betonung liegt auf dem Christus, der aus dem Grab fährt, nicht auf dem, der am Kreuz hängt.

Tsipras und Merkel

Für Atheisten wie Alexis Tsipras mag das alles weit weg liegen. Aber es ist unbestreitbar, dass diese beiden völlig unterschiedlichen Geschichten zwei verschiedene moralische Weltanschauungen mit sich bringen – und unterschiedliche Haltungen zu wirtschaftlichen Fragen. Tsipras ist viel mehr im östlich-orthodoxen Lager daheim, wenn es um Rettung geht. Und die lutherische Pastorentochter Angela Merkel im westlichen. Er will aus dem Gefängnis der Schuld ausbrechen. Sie glaubt, dass Schuld bezahlt werden muss, egal wie viel Blut und Schmerzen das braucht.»

Und wir?

So weit der Kommentar des Guardian (leicht gekürzt). Und so weit auch die Parallelen. Denn was in der Politik und Wirtschaft nicht möglich ist (keiner wird kommen und die Schulden der Griechen einfach bezahlen) – für unser persönliches Leben hat Erlösung stattgefunden. Ohne über das «Wie» der Erlösung zu spekulieren: Jesus ist «das Lamm Gottes, das die Sünden der Welt wegträgt» (Johannes-Evangelium, Kapitel 1, Vers 29) und der, der am Ostermorgen die Ketten des Todes gesprengt hat. Beide Ereignisse sind zwei Seiten der gleichen Medaille und hängen eng zusammen. Der Tod ist die Folge der Sünde (vgl. Römerbrief, Kapitel 6, Vers 23) – darum brach Jesus die Macht des Todes, als er wegen unsere Sünde gekreuzigt wurde. Weil Karfreitag, darum Ostern. Das gilt im Osten und im Westen.

Der Kommentar im englischen Original

Zum Thema:

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Dossier: Ostern

Datum: 19.04.2015
Autor: Reinhold Scharnowski
Quelle: Livenet

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