„Das Wort ist sehr mächtig in unserer Kultur“

Daniel Perrin

Wie gehen wir mit der Bilderflut um? Verdrängen die Bilder aus den Medien die Worte? Der Medientag der Schweizerischen Evangelischen Allianz SEA am 15. März 2003 in Aarau bot Gelegenheit, über das Verhältnis von Wort und Bild und über christliche Medienarbeit nachzudenken (Livenet.ch und Jesus.ch berichteten). Zu den Referenten gehörte der Sprach- und Medienwissenschaftler Daniel Perrin. Livenet-Redaktor Peter Schmid sprach mit ihm über Wahrnehmung und Sprache und die relative Macht der Bilder.

Livenet.ch: „Im Anfang war das Wort.“ Daniel Perrin, was bedeutet dieser Satz aus der Bibel für Sie?


Daniel Perrin: Je nach Vorstellung von der Welt ist zuerst ein Entwurf da, etwas, das man sich denkt, eine Weltkonzeption. Und dann kann das Denkbare Wirklichkeit werden. So funktioniert vieles im Alltag. Man kann es so sehen.

Man kann es auch umgekehrt sehen: dass man zuerst zuerst Dinge wahrnimmt und sie dann benennt. Als Sprachwissenschaftler interessiert mich dieser Zusammenhang von Sprache und Denken.

Laut der Bibel hat Gott durch sein Wort das geschaffen, was zuvor nicht war. Deckt sich dies mit den Erkenntnissen der Sprachwissenschaft? Schafft Sprache Neues – oder benennt sie nur Vorgefundenes?

Eine Position, die in der Sprachwissenschaft sowohl vertreten als auch bestritten wird, sagt: Denkbar ist nur, was auch benennbar ist. Aber das gilt natürlich in meinen Augen nicht für alles. Beim Menschen sind auch andere Erfahrungsbereiche mit vorsprachlichen Konzepten vorhanden.

Wie hat die Bibel Ihr Denken über Journalismus und Schreibstrategien beeinflusst?
Als ein spannender Text. Sie ist Sprachwissenschaftlich ist sie ein Text von aus Texten, in dem man das Prinzip der Intertextualität sehr gut sieht. Textwissenschaftlich gesehen ist der Bibeltext ist, als Text, ein Puzzle aus Teiltexten, die verbunden und verschmolzen wurden. Die wissenschaftliche Theologie versucht ja auch, den Quellentexten auf die Spur zu kommen: Was kommt woher?

Mich interessiert das Überliefern und Verschmelzen von Texten, wobei die Nahtstellen oft wieder rekonstruierbar sind, weil am Textübergang die Sprache sich ändert. Der Gestaltungsprozess hat sich im fertigen Text niedergeschrieben. Der Arbeitsprozess zieht seine Spur im fertigen Produkt – und das finde ich sehr spannend, denn das Gleiche ereignet sich in unserem Alltag, wenn wir schreiben. Die Bibel unterscheidet sich darin nicht einmal von einer Agenturmeldung, die bei einer Zeitungsredaktion eingeht. Häufig ist sie eine Meldung zusammengesetzt aus früheren Teiltexten. Die Grenzen wurden möglichst unsichtbar gemacht, sind aber doch sichtbar.

‚Suchen und Finden‘ ist das Motto im Jahr der Bibel 2003. Ist es für Sie wichtig, um einen Bibeltext herum zu lesen, den Kontext zu erkunden, um den tieferen Sinn des Textes zu erschliessen?

Das meinte ich nicht. Ich sprach eben vom wissenschaftlichen Interesse. Etwas anderes ist das Leseerlebnis. Es stellt sich ein, wenn ich nicht wissenschaftlich lese, sondern als einer, der sich indirekt ein Stück Welt erschliesst durchs Lesen. Dann versuche ich, der inneren Bilder gewahr zu werden die inneren Bilder zu begreifen, die der Text in mir auslöst.

Wenn ich ein bisschen wissenschaftlicher herangehe, überlege ich mir: Sind das wohl die Bilder, die ein Autor gemeint haben könnte? Wir wissen ja nie, was ein Autor von mit seinem Text gemeint hat; wir können nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit annehmen, dass, wenn er sich Mühe gibt, bestimmte Bilder in mir auszulösen, dies auch gelingen könnte. Und wenn ich dann die Bilder habe, kann ich zurückschliessen, dass er dies gemeint haben könnte.

Der SEA-Medientag steht unter dem Thema ‚Vom Wort zum Bild‘? Beunruhigt Sie die Macht, die Bilder aus den Medien über uns haben?

Sie beunruhigt mich nicht; mich fasziniert, was Bilder aus den Medien in uns auslösen. Ob sie Macht haben, ist eine komplizierte Frage, an der man forscht. Ich würde nicht einfach annehmen, dass Bilder über uns Macht haben.

Ich denke, dass unser Bewusstsein ein Ausschnitt der Gesamtheit der Bilder ist, die wir wahrgenommen haben. Aber Bilder, die wir wahrnehmen, sind Bilder, die wir uns machen von einem Wort, einer Geschichte oder einem materialen Bild, einem abgebildeten Gegenstand.

Ich sehe ja nicht ein Bild als das, was es ist. Ich persönlich habe da eine mehr eher konstruktivistische Position: Wenn ich ein Abbild, ein Bildnis vor mir sehe, mache ich mir meine eigene Vorstellung von diesem Bild – und erst diese nehme ich wahr. Zwei Personen können dasselbe Bild völlig anders wahrnehmen, andere Dinge darin sehen und es anders interpretieren. Vereinfacht gesagt: Es gibt erst Bilder im Kopf, nicht Bilder an sich.

Am Medientag wurde erwähnt, dass wir erst die zweite Generation sind, die so viele medial vermittelte Bilder hat. Heute erlebe ich, dass es schwieriger wird, Kinder zum Lesen anzuhalten. Sie verhalten sich, als ob es für den Eintritt in die Gemeinschaft der Menschen genügen würde, eine Menge von Bildern aufzunehmen. Wie bewerten Sie diese Entwicklung?

Seitdem es den Buchdruck gibt, haben wir in unserer Kultur einen Schub gemacht hin zur Sekundärerfahrung: Dinge, die wir nicht direkt erleben, können wir nicht nur einander erzählen – (was der Mensch wohl schon immer gemacht hat, um Kultur zu entwickeln). Wir können nun auch Dinge festhalten, und sie bleiben, wenn der Mensch, der sie erzählt hat, nicht mehr da ist. Die Schrift macht es möglich, dass ich Gedanken greifbar und angreifbar machen kann. Ich kann sie aus mir herausstellen; sie sind dann losgelöst von meiner Person.

Das gilt nun aber für Schrift in einem weiteren Sinne, auch für Tonbanddokumente. Mein Grossvater war Bundeshaus-Journalist. Ich höre mir die Interviews, die er führte, von Zeit zu Zeit an und erschliesse ihn mir wieder neu über diese Tonbänder. Sie sind Spuren, die nach ihm geblieben sind. Auch Architektur und Landschaftsgestaltung bleibt, wenn der Architekt längst schon anderswo ist und etwas Anderes gestaltet. Vielleicht gefallen ihm die ersten Werke gar nicht mehr.

Wir können Gedanken mit Schrift recht leicht festhalten. Und dazu kommt nun, dass die Kanäle zur Übermittlung dieser Zeichen immer billiger werden. Die ersten Bücher zu drucken, war ein ausserordentlich teures Unterfangen. Der Buchdruck war in der Hand einiger mächtiger Personen und Institutionen. Demokratisierung gelang, als die Medien billiger wurden – sie geht Hand in Hand mit den Zeitungen, mit dem Journalismus. Heute sind die Übermittlungskanäle fast gratis und die Zeichen darum überall gegenwärtig.

Natürlich ist die Welt auch sonst voll von Objekten, die mir etwas sagen können. Die Frage ist: Will ich hören oder schauen – oder will ich es nicht? Wer sich mit Botanik beschäftigt, liest im Frühling, wenn er durch den Garten geht, ganze Bücher. Die Frage ist doch: Will ich mich den Zeichen öffnen, sie wahrnehmen oder nicht?

Sie haben nach der Lesebereitschaft der Kinder heute gefragt. Sind sie Videos so sehr gewohnt, dass sie kaum mehr lesen mögen? Ich erlebe das nicht so, jedenfalls nicht bei unseren Kindern – Joel ist 6 und ist versessen aufs Lesen, und Noé, erst 2, will auch schon lesen. Wir haben unseren Kindern das Video nie verboten, und doch wollen sie lesen.

Ich erlebe auch bei meinen Studentinnen und Studenten, dass sie gern mit Texten umgehen...

Das darf man wohl hoffen...

Nun, ich denke, im grossen Ganzen ist unsere Gesellschaft so alphabetisiert wie noch nie. Selbstverständlich nehmen neue Medien Raum ein – dieser Prozess ist im Gang. Das Fernsehen holte sich seinen Platz, der Computer holt sich seinen Platz, weitere Medien dürften folgen. Aber wenn wir die Geschichte der Menschen überblicken, hatte die klassische Schriftsprache einen Anfangsboom. Nun verliert sie Platz an andere Medien. Aber wenn man grössere Zeiträume überblickt, verläuft die Entwicklung hin zu mehr Schrift. Mich als Liebhaber von Zeichen und Texten macht das optimistisch.

Ich weiss, es gibt den neuen Analphabetismus. Man könnte das auch deuten als Normalisierung nach einem Boom. Die Schrift war aus technischen Gründen das Medium, mit dem man zuerst günstig die Massen erreichen konnte. Nun schaffen das auch andere Medien und faszinieren die Menschen. Kurz: Ich denke nicht, dass unsere Kultur sich in einem unguten Sinne von der Schrift weg bewegt. Eher, dass sich da etwas Neues einpendelt.

Das Internet fordert zum Lesen auf. Ohne Lesen kommt man nicht weit...

Auch E-Mail bringt die Leute Menschen dazu, dass sie am Arbeitsplatz wieder viel mehr schreiben. Und SMS: Die Jugendlichen sind wie verrückt am Schreiben. Zwar in einem Tempo, wie man früher in Stein meisselte...

Neue Medien kommen; der Austausch über Zeichen nimmt zu, auch die Virtuosität im Umgang mit der Zeichenhaftigkeit der Welt.

Prof. Dr. Daniel Perrin, 42, Sprach- und Medienwissenschaftler, leitet das Institut für Angewandte Medienwissenschaft der Zürcher Hochschule Winterthur ZHW. Er befasst sich vor allem mit dem beruflichen Schreiben und dem Denken beim Schreiben, den Zusammenhängen von Wahrnehmung, Sprache und Hirntätigkeit. Perrin hat mehrere Bücher verfasst, darunter "Wie Journalisten schreiben" und "Schreiben. Von intuitiven zu professionellen Schreibstrategien".

Interview: Peter Schmid

Webseite der Hochschule Winterthur: www.iam.zhwin.ch

Datum: 02.04.2003
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

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