“Fernsehpfarrer” Jürgen Fliege - ein Phänomen

Fernsehpfarrer Jürgen Fliege

Bavaria-Filmstudio in München-Geiselgasteig, fünfzehn Minuten vor Sendebeginn. Bei anderen Talkshows kommt jetzt ein Anheizer ins Studio. Hier übernimmt das der Chef persönlich. Jürgen Fliege, 55 Jahre alt, für das Fernsehen beurlaubter Pfarrer der rheinischen Kirche, schüttelt Hände, fragt nach Herkunft und Anfahrtszeit, macht Komplimente zu Aussehen und Bildung. Wer Jürgen Fliege kennenlernt, riskiert, ihm zu verfallen. Er ist begabt, er hat Charme. Seine Jackets sind nicht mehr so schrill, seine Haare kurz geschnitten, seine Rhetorik makellos.

Er imitiert die Dialekte der Besucher, plaudert, geht quer durchs Studio, erzählt einen Witz und erinnert beiläufig daran, dass das Publikum doch Applaus spenden möge, wenn die Sendung beginnt. Dann schüttelt er wieder Hände. Einer Dame bietet er sein Glas Wasser an, einer anderen legt er den Arm um die Schulter und spricht mit ihr, als wären sie zu zweit. Fliege duzt, er stellt Nähe her. “Wenn du Kaugummi kaust, siehst du im Fernsehen aus wie eine Allgäuer Kuh”, mahnt er eine Frau. Natürlich kaut die gar keinen Kaugummi, das macht keiner, aber Fliege bringt den Witz trotzdem, er bringt ihn jedesmal, weil er so gut funktioniert.

Das Studio ist voll besetzt, 80 Gäste wollen Fliege sehen, haben sogar Eintritt bezahlt, um dabeizusein. Die meisten sind Frauen über 50. Sonst sehen sie ihn im Fernsehen, zu Hause beim Bügeln oder Kaffeetrinken. Fliege verteilt einen Handkuss, er schäkert und scherzt, er ist Kavalier, Seelsorger und Liebhaber. Er ist gut, wahnsinnig gut, er könnte Thomas Gottschalk bei “Wetten, dass ...” beerben. Er redet in einfachen Sätzen, er beherrscht die Kunst der Verkürzung. “Wer gesund bleiben will, soll immer Pizza Funghi bestellen, weil da die Champignons mit Heilkraft drin sind”, sagt Fliege in einer Sendung über natürliche Heilmittel. Er könnte BILD-Kolumnist sein. Mehr als 100 Briefe bekommt Fliege täglich. Die Menschen vertrauen ihm, suchen seinen Rat, bitten die Stiftung, die er gegründet hat, um Geld. Sie schwärmen von ihm. Er sei “so sympathisch, ein toller Mann”, versichern Besucherinnen von der Arbeiterwohlfahrt. Fliege könnte Schwämme und Putztücher vor dem Kaufhof anpreisen oder sein Geld als Marktschreier auf dem Fischmarkt verdienen. Aber er ist Pfarrer geworden.

Und er kann sagen, was er will, er hat Narrenfreiheit. Er biegt und dehnt die Bibel nach seinen Vorstellungen, er weicht ihre Worte so lange auf, bis sie sich auflösen. Er kann zum Kirchenaustritt aufrufen, die eheliche Treue als überholte bürgerliche Vorstellung bezeichnen, in seiner Sendung Pendel schwingen und Karten legen lassen – es ist ihm alles erlaubt. Er ist der erste evangelische Pfarrer mit Unfehlbarkeitsgarantie. Verlässt ihn doch einmal sein Instinkt und bekommt er Ärger mit der Kirchenleitung “dann fahr ich zu denen hin, und wir räumen das aus”. Ihm ist vergeben, bevor er gesündigt hat. Schon wird er wieder zu Kongressen eingeladen, steht auf der Kanzel und vor der Kamera. Fliege muss Abwechslung bieten. Nur nichts vertiefen, nur nicht langweilen. Manchmal verspricht er sich, verwechselt Namen, Alter oder Krankheiten. Alle zehn Minuten kommt ein neuer Studiogast. Seelsorge ist das nicht. Es ist Unterhaltung, Inszenierung, Show. Und es ist ziemlich perfekt.

Wenn Fliege mit seinen Studiogästen redet, arbeitet jeder Gesichtsmuskel, er legt die Stirn in Falten, zieht die Augenbrauen hoch oder die Mundwinkel runter, er nickt, er brummt, er schiebt sein Kinn verstehend vor. Jede Bewegung eine Geste des Mitleidens. Ist das echt, kann ein Mensch so viele Gefühle haben? “Wer über 1.000 Sendungen macht, kann sein Wesen nicht verstecken”, sagt Fliege. Es ist echt, genauso echt wie der Fliege hinter den Kulissen. Dort schnauzt er einen Mitarbeiter an. “Das ist alles Scheisse, Walter. Wir müssen Fernsehen machen!” Walter steht neben ihm und schweigt benommen. Jürgen Fliege hat gesprochen, Widerspruch zwecklos.

Jürgen Fliege gibt es zweimal. Er ist der Menschenflüsterer, der die Zuschauer fesselt, sie in seinen Bann zieht. Und er ist der Mensch, der seine Interessen durchsetzt, der tobt und auf Einschüchterung setzt, wenn man ihm eine kritische Frage stellt. Fliege sei “professionell, ehrgeizig und tiefgläubig”, lobt ihn ein Mitarbeiter. Doch wenn es um das persönliche Verhältnis zu Fliege geht, wird seine Belegschaft seltsam einsilbig. Nur einer deutet an: “Hinter der Kamera ist er ganz anders.”

INTERVIEW

Karsten Huhn

Der “Menschenflüsterer”
Seine Talkshow läuft viermal in der Woche im ersten deutschen Fernsehprogramm. Eine Stiftung und eine Monatszeitschrift tragen seinen Namen. Er hat mehrere CDs herausgegeben, zahlreiche Bücher verfasst, und er gründete ein Institut für Kommunikation und Seelsorge. Jürgen Fliege ist der bekannteste Pfarrer im deutschsprachigen Raum. Wenn er im Fernsehen auftritt, sehen ihm über eine Million Menschen zu. Obwohl selbst Pfarrer, kritisiert er seit mehr als zwanzig Jahren seine, die evangelische Kirche. Er warf ihr “Langweilertum und Lendenlahmheit” vor, ihre Bischöfe seien “gleichgeschaltet”. Er selbst nennt sich “Menschenflüsterer”. Sein Motto: “Nicht richten, sondern aufrichten”.

Karsten Huhn: Herr Fliege, Sie sagten einmal, dass Sie “als Geistlicher einem prostituierendem Gewerbe nachgehen. Wir lieben gegen Bezahlung.” Was meinen Sie damit?
Fliege: Ich benutze diese Dinge immer, um uns Geistlichen klarzumachen: Guckt nicht so moralisch runter, wir haben einen ähnlichen Beruf. Die Leute wollen geliebt werden. Dafür haben sie die Kirchensteuer entrichtet. Wir werden für unsere Arbeit bezahlt. Im übrigen ist Prostitution ein Gewerbe, das inzwischen sozial anerkannt ist.


Sie sagen auch, dass Sie nur noch vom Volk lernen können, aber nichts mehr von den Bischöfen.

Eine kirchliche Erneuerung geht nie von den Bischöfen aus. Man lernt mehr von den Menschen einer Gemeinde als an theologischen Lehrstühlen.

Theologen müssen ja nicht zwangsläufig so weit weg vom Leben sein. Warum die Absolutheit?

Ich weiss auch nicht, wo es herkommt, dass die Pfarrer so weit weg vom Leben sind. Dass ihre Sprache nicht die der Menschen ist, ihr Umgang und ihr Verhalten nicht. Deswegen sind sie ja in der Vertrauensskala des Volkes in eine unendliche Ferne abgerutscht. Ich habe seit Jahren davor gewarnt!

Sie sind ein Experte der Form, der religiösen Kommunikation.

Ich bin auch ein Experte religiöser Inhalte. Sie müssten doch begeistert sein: Ich bin von Haus aus Pietist und habe immer gesagt: Wir Pietisten haben einen Vorsprung. Dieser Vorsprung heisst Erfahrungsreligion.

Jürgen Fliege – ein Pietist?

Na klar. Ich habe allerdings eine Reise gemacht, die mancher Pietist nicht macht, indem ich mir sagte: Jetzt guck doch mal, ob die Ängste, die man dir als Kind gemacht hat, stimmen. Warum ist Gott Mensch geworden? Stimmt es eigentlich, dass er unsere Sünden auf sich genommen hat und dass er auferstanden ist? Das sind alles Dinge, die man in die Kinderschuhe geschoben bekommt, und man muss gucken, ob sie stimmen.

Stimmen sie?

So nicht! Da bin ich mir sicher. Man muss mir keine Angst machen vor dem Tod. Aber ich will umgekehrt sagen: Die Pietisten haben einen Vorsprung, was zum Beispiel Engel und Dämonen angeht. Da fehlt den Leuten, die an einen platten Rationalismus glauben, etwas.

Glauben Sie, dass es den Teufel gibt?

Das weiss ich nicht genau, es könnte aber sein.

Sie sagen: “Mit Hölle kann ich nichts anfangen.”

Jeder weiss, dass dieses Wort in der Bibel so nicht vorkommt.

Also kommen alle ins Himmelreich, wenn es keine Hölle gibt?

Die Auseinandersetzung mit dem Geiste Jesu geschieht nicht, um Leute zu verdammen, sondern um Leute aufzurichten.

Was denken Sie über das Gebet?

Es ist nichts anderes, als sich in einer spirituellen Tiefe der Gottheit zu nähern.

Welche Gottheit meinen Sie?

Die, in deren Tradition ich gross geworden bin. Das ist die jüdisch-christliche, der Vater des Lebens. Wenn ich in Indien gross geworden wäre, wäre das eine andere Geschichte. Aber was ich an Ehrfurcht, Furcht und Zittern haben würde, wäre dieselbe Bewegung. Beten ist ein Sich-Einnorden, ein Lauschen.

Könnte man auch zu einem anderen “Gott” beten?

Na klar, Religion ist keine Frage der Wahrheit, sondern der Plausibilität. Wenn Sie woanders gross geworden sind, können Sie in dieser Religion auch alt werden. Das ist völlig okay.

Man könnte sich auch bekehren und Christ werden.

Ich habe als Gemeindepfarrer erlebt, wie schwierig es ist, als Katholik Protestant zu werden – und das ist ja nur ein kleiner Schritt. Religion ist eine Frage der Heimat. Wenn Sie die verlieren, geht das nicht ohne Wunden und Schmerzen ab. Man amputiert da etwas.

Lehnen Sie Mission ab?

Ja, radikal. Ob mein Weg richtig ist für andere, weiss ich nicht.

Das heisst, Sie sind von ihrem eigenen Weg gar nicht überzeugt?

Doch. Aber ich sage nicht, mein Weg ist besser als deiner. Du gehst keinen falschen Weg, du gehst eben deinen.

Was machen Sie mit dem Satz von Jesus (Johannes 14,6): “Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Niemand kommt zum Vater denn durch mich”?

Ich weiss, wo dieser Satz herkommt. Und dann gucke ich, ob, wann und wo er für mich gültig ist.

Und ist er gültig?

Ist morgens gültig, dass Sie sagen: “Es ist Abend”?

Sie machen auch Sendungen über Sternzeichen. Soll man sein Leben nach Sternzeichen ausrichten?

Ich persönlich lese wenig Horoskope. Das hängt aber von meinem Charakter ab. Ich bin ein Macher, ich gehe vorwärts, manchmal auch sehr unsensibel. Ich bin ein typischer Widder. Ich glaube, ein Widder, der Horoskope liest, den gibt es gar nicht. Aber ich benutze Horoskope in meiner Arbeit. So wie ich zum Arzt gehe und ihn frage: Was weisst du über diesen Menschen? Wenn man so will, ist es eine Charakterstudie aus seelsorgerlichen Gründen.

Die Bibel warnt davor, die Sterne zu deuten.

Es ist mir doch egal, wovor die Bibel warnt. Sie warnt ja auch davor, dass Frauen sich die Haare abschneiden müssen. Es ist doch nicht entscheidend, was in der Bibel steht. Entscheidend ist, was Christus sagt. Soll ich gucken, wer der Klügere von uns beiden ist? Sie wissen auch nicht, ob er sich die Haare abgeschnitten hat. Sie wissen auch nicht, welche Krankheiten er gehabt hat. Also war er nie krank? An dieser Stelle wissen wir nichts über Jesus. Das heisst doch nicht, dass es das, was wir nicht von ihm wissen, nicht gibt.

Sie sagen, dass es auch egal ist, ob man das Herrnhuter Losungsbuch liest oder die aus dem Okkultismus stammenden Tarotkarten befragt.

Die Menschen, die Tarotkarten legen, den Kaffeesatz lesen oder weissagen, habe ich als fromme, gottesfürchtige Menschen erlebt. Die zittern zum Teil vor ihrer Begabung. Eine andere Möglichkeit sind Losungssprüche. Wissen Sie, wie Losungssprüche hergestellt werden?

Sie werden aus dem Lostopf gezogen.

Und das ist ein Zufall. Der Zufall legt den Kaffeesatz, der Zufall legt die Karten. Und jede Karte hat eine Bedeutung. Wer die Begabung hat, solche Karten zu lesen, tut etwas Ähnliches wie die Christen, aus einer ähnlich frommen Grundhaltung heraus. Manchmal sind sie sogar noch frömmer.

Ist es egal, ob man zum Pfarrer, zum Wahrsager oder zum esoterischen Lehrer geht?

Nein, aber der Pfarrer muss sich fragen, warum die Leute nicht zu ihm kommen.

Es gibt Pfarrer, zu denen die Leute kommen. Die Kirche wächst fast überall - ausser in Mitteleuropa.

Ja, sie wächst in Asien am meisten, weil sie dort pfingstlerisch ist und alle Elemente, die wir hier gerade besprechen, integriert hat. Vom Zungenreden angefangen, bis zum Tanz, zum Zauber und der Magie, all das ist drin. Das ist genau das, was ich will. Nehmt doch endlich mal die Dinge auf, die Religion lebendig machen!

Warum fällen Sie so ein hartes Richterurteil gegen die Kirche?

Es ist ein unter Tränen gefälltes Urteil. Es gibt Hunderte und Tausende von Menschen im Land, die einen Hunger nach Religion haben, der nicht gestillt wird. Jeden Tag treten tausend Leute aus der Kirche aus. Es ist eine Riesenkatastrophe.

Sind Sie ein demütiger Mensch?

Nein, das bin ich nicht. Ich bin einer, der sich wahrscheinlich immer weiter entwickelt.

Datum: 06.12.2002
Quelle: idea Deutschland

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