Wohnen bei Gastfamilien

Die ersten 100 Tage der Projektleiterin der SEA-Flüchtlingshilfe

Mit einer Projektstelle für die private Unterbringung von Flüchtlingen hat die SEA Neuland betreten. Das Echo von Christen aus Allianz und Freikirchen darauf ist überraschend gross, wie Denise Kehrer, «Projektleiterin Wohnen Flüchtlinge», erfahren hat. Noch ist aber viel Sensibilisierungsarbeit bei den Behörden angesagt. Eine Standortbestimmung nach den ersten 100 Tagen.
Denise Kehrer
Essen einer multikulturellen Familie (istock: 27651103)

Denise Kehrer ist eine vielbeschäftigte Frau. Nachts arbeitet sie Teilzeit als Sozialpädagogin in einer Institution mit jungen Erwachsenen. Tagsüber knüpft sie Netze mit Behörden, Gemeinden, Fachstellen, Migrationsspezialisten sowie mit Familien, die bereit sind, Flüchtlinge aufzunehmen.

Denise Kehrer ist ausgebildete Pflegefachfrau mit mehrjähriger Erfahrung in der professionellen Flüchtlingsbetreuung und Migrationsbegleitung. Sie hat zudem einen Bachelor in Sozialwissenschaften. Mit verschiedenen Weiterbildungen hat sie sich speziell in Migrationsfragen und interkultureller Mediation spezialisiert. Durch die Leitung von Projekten der Flüchtlingsbetreuung im In- und Ausland bringt Kehrer vielfältige praktische Erfahrungen mit.

Wunsch und Realitäten

In den ersten drei Monaten seit Aufnahme der SEA-Projektstelle hat Denise Kehrer die Realitäten kennengelernt. Zum einen sind viele Familien bereit, Flüchtlinge bei sich aufzunehmen und sich um ihre Integration zu kümmern. Zum andern sind die Behörden nicht immer flexibel genug, diese Unterstützung anzunehmen. Es braucht dazu eine beharrliche Aufbau- und Kontaktarbeit, wie Kehrer in den ersten 100 Tagen ihrer Bemühungen erfahren hat. Und da ist auch die Realität des schweizerischen Föderalismus: Der Bund begrüsst ausdrücklich das Engagement von Familien zur Integration von Flüchtlingen aus andern Kulturen, die Kantone und/oder Gemeinden halten sich zurzeit eher noch zurück. Am weitesten gediehen ist die Zusammenarbeit in der Deutschschweiz in den Kantonen Baselstadt, Bern und Solothurn. Positiv wertet Kehrer die Vorarbeit der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (SFH).

Hohes Potenzial bei Christen und Gemeinden

Denise Kehrer bleibt dran: Sie ist überzeugt, dass gerade in christlichen Gemeinden und Familien ein hohes Potenzial liegt, Menschen aus anderen Kulturen zu helfen, hier Fuss zu fassen. Verfügbaren Wohnraum können sie direkt auf der SEA Plattform Flüchtlingen-helfen.ch anmelden. Erfolgreich sind die Bemühungen vor allem, wenn bereits Migranten mit dem Aufenthaltsstatus N (noch im Aufnahmeverfahren stehend) mit hoher Wahrscheinlichkeit auf Asyl in Familien aufgenommen werden. Gerade die erste Zeit des Aufenthalts sei sehr entscheidend für die Integration dieser Menschen, so Kehrer. Auch ehemalige unbegleitete minderjährige Asylbewerber (UMAs), die mit 18 Jahren aus dem Pflegefamiliensystem rausfallen und normalerweise zurück in eine Kollektivunterkunft transferiert werden, können vom Integrationsprojekt «Wohnen bei Gastfamilien» sehr profitieren.

Vier Projektphasen

Denise Kehrer hat ihre Arbeit in vier Projektphasen aufgeteilt. «In zwei Zielkantonen ist die erste Phase für die Aufnahme von etwa 50 Flüchtlingen abgeschlossen», erklärt sie. In Phase 1 kontaktiert sie interessierte Gastfamilien, klärt im Gespräch die Umstände und die Eignung ab und geht mit ihnen eine Checkliste durch. Danach erstellt sie ein Dossier der Gastfamilien, die definitiv im Programm aufgenommen sind und leitet es an die zuständigen Behörden der jeweiligen Kantone weiter. Offenheit und Flexibilität der Familien, die Bereitschaft, eine Beziehung mit den Geflohenen zu knüpfen und auch die Möglichkeit, ihnen eine Privatsphäre zu gewähren, sind für die Aufnahme entscheidende Kriterien. Zudem sollten Gastfamilien offen für andere Kulturen sein und sich nicht vor Muslimen fürchten. Sie sollten Toleranz aufbringen und die Überzeugungen der Gäste respektieren. Über Glaube darf gesprochen werden, wenn die Gäste dies wünschen. Die SEA hat diesbezüglich einen Verhaltenskodex für Migrationsbegleiter publiziert.

In der zweiten Phase werden Absprachen zwischen Kanton und lokalen Gemeinden getroffen, in denen die Gastfamilien Flüchtlinge aufnehmen möchten. Danach werden in den lokalen Kollektivunterkünften geeignete und integrationswillige Flüchtlinge für die jeweiligen Gastfamilien ausgewählt. «Im Kanton Solothurn kommt Phase 2 bereits gut voran, und Phase 3 wird noch diesen Monat anlaufen», verrät Denise Kehrer.

Flüchtlinge und Gastgeber zusammenführen

In der dritten Phase geht es um das Zusammenbringen der ausgewählten Flüchtlinge mit den Gastfamilien. An einem runden Tisch werden die Flüchtlinge, die Gastfamilie, ein Kulturvermittler sowie eine Person der jeweiligen lokalen Sozialbehörden unter der Leitung von Denise Kehrer (SEA) oder Stefan Frey (SFH) zusammenkommen, um sich kennenzulernen und Vereinbarungen zu treffen. Die Familien erhalten eine Entschädigung für den vermieteten Wohnraum, ihre Begleitarbeit und Unterstützung erbringen sie freiwillig.

In der vierten Phase werden die Gastfamilien in den ersten drei Monaten mit Beratung und Wohn-/Konflikt-Coaching begleitet und es werden gleichzeitig weitere Wohnprojekte angegangen. Die Erfahrungen von Familien, die auf andern Kanälen bereits Flüchtlinge aufgenommen haben, sind laut Kenntnis von Kehrer bislang sehr positiv. Eingegangene Rückmeldungen zeigen, dass es auch zu herausfordernden Situationen kommen kann, aber bis jetzt musste kein Projekt abgebrochen werden. Die Gastfamilien erfahren Begleitung durch monatliche Coaching-Gespräche in der Anfangsphase und schätzen diese sehr. Die Kenntnis der Sprache der Geflohenen sei nicht unbedingt nötig, so Kehrer. Die Erfahrung zeige, dass sich Gastgeber und Gäste meistens recht schnell und unkompliziert verständigen können, und die Flüchtlinge lernten in den Wohnprojekten sehr schnell Deutsch.

Zur Webseite:
Flüchtlingen helfen

Zum Thema:
Innovationspreis für «Al Salam»: Ein Projekt, das den Arbeitseinstieg für Flüchtlinge erleichtert
Bundesasylzentrum Thun: Kirchen erfreut über grosses Engagement der Bevölkerung
Für alle, die direkt helfen wollen: Flüchtlinge bei sich zu Hause aufnehmen - aber wie?

Datum: 14.04.2016
Autor: Fritz Imhof
Quelle: Livenet / idea Spektrum

Publireportage
Werbung
Livenet Service
Werbung