Kommentar: Was wir aus dem Holocaust lernen sollten

Denis Prager
Deportationen im dritten Reich 1944.
Hanspeter Obrist

In ihrer Bosheit ist sie nicht zu begreifen, und gerade deshalb muss uns die Judenvernichtung im Dritten Reich weiterhin zu denken geben. Hanspeter Obrist, Leiter der „Arbeitsgemeinschaft für das messianische Zeugnis an Israel“, skizziert anlässlich des heutigen Holocaust-Gedenktages Wege für den Umgang mit dem Unbeschreiblichen.

Denis Prager, ein jüdischer Autor aus Los Angeles, zeigt uns einen ganz neuen Ansatz, über den Holocaust nachzudenken. Er schrieb anlässlich der Holocaust-Konferenz in Berlin 1991: „Im Judentum aber kann man nicht im Namen eines anderen vergeben. Nur derjenige, der verletzt wurde, kann vergeben. Wenn jemand meinem Freund etwas Böses zufügt, darf nicht etwa ich an seiner Stelle dem Übeltäter verzeihen. Deshalb kann kein Jude den Deutschen im Namen der von den Nazis Ermordeten vergeben. … Das Thema der Vergebung ist kein Thema für uns. Es ist nicht unsere Aufgabe, dafür zu sorgen. Weder Deutsche noch Juden sollten auch nur einen Gedanken daran verschwenden. Das wirkliche Thema lautet: Was haben wir aus dem Holocaust gelernt?“

Dies sind seine Schwerpunkte:

1. Menschliche Wesen sind im Grunde nicht gut, das ist die offensichtlichste und vielleicht wichtigste Lehre aus dem Holocaust. Es war nicht Gott, der Kinder auf Scheiterhaufen warf, der Gaskammern baute, Todeslager einrichtete oder Erfrierungsexperimente an Männern und Frauen durchführte. Es waren Menschen. Man fragt sich, was noch alles geschehen muss, damit dieser Glaube an die Menschheit erschüttert wird. Das häufigste Alibi ist, dass solche Menschen als krank bezeichnet werden. Aber Hitler und seine Anhänger waren nicht notwendigerweise krank. Sie waren böse.

2. Bildung und Kunst, zwei der angesehensten westlichen Werte, sind moralisch gesehen gänzlich irrelevant. Professor Peter Merkl von der University of California in Santa Barbara analysierte 581 Nazis und fand heraus, dass Deutsche mit gymnasialer oder sogar Universitätsbildung im Durchschnitt antisemitischer waren als solche mit weniger Bildung. Eine Studie von 24 Einsatzgruppenführern zeigt, dass die grosse Mehrheit dieser Männer sehr gebildet war, besonders Rechtsanwälte.

3. Das Böse, das durch säkulare Ideologien in die Welt kam und kommt, lässt religiöse Untaten geradezu zwergenhaft erscheinen. Allein in diesem Jahrhundert wurden mehr unschuldige Menschen von säkularen Ideologien ermordet, gefoltert und versklavt als von allen Religionen im Laufe der gesamten Menschheitsgeschichte. Gott ohne Ethik und Ethik ohne Gott – beides ist gefährlich für die Juden und für die Welt.

4. Die christliche Welt schwieg immer zum Bösen, auch wenn andere Christen litten. Der Holocaust ist eine viel grössere Herausforderung für das Christentum als für das Judentum. Der Holocaust war eine Katastrophe für die Juden, aber nicht für das Judentum. Während jedoch der Holocaust für Christen keine Katastrophe war, ist er ein Desaster für das Christentum. Der Nationalsozialismus war in seinem Wesen anti-christlich, aber Millionen europäischer Christen und auch ihre geistliche Führung haben dies gar nicht begriffen. Die Erkenntnis des Bösen und öffentlicher Protest sind scheinbar keine christlichen Haupttugenden. Aber die Juden sollten auch die andere Seite der Christen nicht vergessen: Unter denen, die Juden retteten, war eine überproportionale Anzahl gläubiger Christen.

5. Einer der Grundlehrsätze des Judentums ist: „Verlasse dich nicht auf ein Wunder!“ So wie auch: „Gewaltlosigkeit schützt nicht vor Vernichtung.“

6. Der Schwächste wurde als Sündenbock angegriffen. Was war der Auslöser zur Judenvernichtung? Die Deutschen standen unter dem Druck der Niederlage des Ersten Weltkrieges. Damit hatten die Juden jedoch nichts zu tun. Vielmehr zeigt es sich, dass der Mensch gerade im Schwachen einen Schuldigen sucht. Es ist schon fast beschämend, wie wehrlose Menschen als Verbrecher abgeführt wurden. Hier zeigt sich der entmenschlichte Mensch, der wie ein Tier über das schwächste Opfer herfällt, um sich selbst zu bereichern.

Nichts kann das Opfer der sechs Millionen kompensieren. Aber wenn die richtigen Lehren gezogen würden, wäre wenigstens ihr Tod nicht ganz sinnlos.

Aufbauend auf diesen Aussagen können wir Folgendes für uns lernen:

Dazu stehen

Wir müssen dazu stehen, dass das Sinnen des menschlichen Herzen böse ist (Römer 3,10-18). Johannes sagt uns, dass wir dies bekennen sollen und Gott uns dann vergibt (1. Johannes 1,9). Viel könnte schon aufgefangen werden, wenn wir nicht versuchen, die Geschichte zu entschuldigen, sondern dazu stehen, wie grauenhaft wir Menschen sein können.

Keine volle Wiedergutmachung und Rehabilitation möglich

Den Opfern müssen wir eingestehen, dass es keine volle Wiedergutmachung gibt. Nur Gottes Geist kann diese tiefe Wunde heilen. Ebenso müssen wir einsehen, dass wir nicht erwarten können, dass die andere Seite uns rehabilitiert. Auch dies kann nur Gott in seiner Barmherzigkeit.

Ein neuer Umgang miteinander

Den Christen sollte die Nennung der Schuld leichter fallen, da Gott uns durch Jesus Christus vergibt. Bei uns sollte der Ort sein, wo man nicht den Schuldigen verurteilt und ächtet, sondern Schuld benennt und einander hilft. Wenn der Holocaust uns zu einem neuen Umgang untereinander führt, dann sind die vielen Opfer wenigstens nicht sinnlos gestorben.

Datum: 27.01.2007
Autor: Hanspeter Obrist

Werbung
Livenet Service
Werbung