Schuld und Schuldbewältigung

Es gibt eine kollektive Schuld. Diese möglichst abzutragen und zu sühnen, ist die heutige Generation den zukünftigen Generationen schuldig.

Man kann mit dem Phänomen Schuld so umgehen, dass man sie entweder psychologisch verharmlost oder den Menschen zu einem Wesen macht, das aus verschiedenen Gründen zwar Fehler machen, aber nicht eigentlich schuldig werden kann. So löst man aber mit Sicherheit keine Probleme; ganz abgesehen davon, dass solche Auffassungen vor dem Rätsel des ungeheuerlich Bösen, das eben nur Menschen zustande bringen, kläglich versagen müssen.

Menschliche Schuld

Es darf davon ausgegangen werden, dass es menschliche Schuld gibt, und dass es solche in der Geschichte der Kirche und unseres Landes je nach Zeit und Umständen reichlich gegeben hat und immer noch gibt. Aber Schuld hat viele Gesichter. Es gibt nicht nur offensichtlich direkte Schuld, sondern auch verdeckte und indirekte - Mitschuld und Schuldverstrickung. Weiter gibt es eine gemeine und bösartige, schwächliche, feige, aber auch freundliche und anständige Schuld auf dem Boden des guten Willens.

Was ist das überhaupt - Schuld? Moralisch im engeren Sinn des Wortes wird man dann subjektiv schuldig, wenn man frei und bewusst etwas will, tut, unterlässt oder zulässt, von dem man weiss, dass es nicht in Ordnung ist oder es einem selbst oder anderen unnötigerweise schadet.

Schuld als Verhängnis

Aber es gibt auch eine Form von Schuld, bei der man etwas Problematisches oder Falsches tut, dessen man sich im Moment der Entscheidung und des Handelns nicht bewusst ist. Oder man entscheidet - ohne lange zu überlegen. Wenn dann später die negativen Folgen des Handelns klar werden, merkt man erst, was man angerichtet hat. Diese Einsicht kann rasch, aber auch erst nach Jahrzehnten kommen. Wenn man nicht ein Gewissen aus Hartholz hat, wird man dann sagen: "Mein Gott, es tut mir leid". Diese Art des Schuldigwerdens ist Verhängnis; Tragik oder unglückliche Schuld.

Kollektive Schuld

Gibt es auch eine kollektive Schuld? Diese Frage ist so alt wie das Alte Testament. Es gibt nicht nur die Verantwortung von Individuen, sondern auch eine gemeinschaftliche, gesellschaftliche, staatliche und damit eine gemeinsame Verantwortung in Familie, Unternehmen, Organisationen und Institutionen, in Gesellschaft, Staat und Kirche. Es ist eine gemeinsame Verantwortung, in die alle Mitglieder eines Kollektivs eingebunden sind - die einen mehr, die andern weniger.

Das gilt in einem modernen Staat wie der Schweiz und der heutigen Kirche natürlich viel mehr als in früheren Zeiten, wo sich die Untertanen oder Gläubigen einer gottgewollten Obrigkeit gegenüber sahen, die die Verantwortung alleine trug. So ist das Schweizervolk heute durch die direkte Demokratie als Staatsvolk für seine Verfassung und Gesetze, für sein Verhältnis zur UNO, für sein Wirtschaftssystem und für seine Asylpolitik und sozialen Sicherheitsysteme verantwortlich. Je grösser die Mitverantwortung eines Volkes für die Ordnungen und dessen Vollzüge ist, desto aktueller wird auch die Frage von Mitschuld.

Erbschuld

Was hat die Schuld der Vergangenheit mit den jetzt lebenden Menschen zu tun, die später geboren wurden? Was haben heutige Christen zu tun mit der jahrhundertealten Schuldgeschichte der Kirche den Juden gegenüber?

Es ist nun mal seit Adam und Eva so, dass die späteren Generationen die Altlasten ihrer Vorfahren übernehmen müssen. Man kennt das aus unzähligen Beispielen - gerade im Hinblick auf die politische Geschichte oder Umweltzerstörung. So übernimmt man bei seinem Lebenseintritt wohl oder übel die ganze Geschichte mit ihren positiven Errungenschaften, aber auch mit all ihren Schattenseiten und Verwerfungen. Man kann nicht nur die Erfolgsgeschichte, sondern muss auch die Schuldgeschichte übernehmen.

Beides ist Teil einer Identität als Person, Familie, Volk, Staat und Kirche. Deshalb trägt man in gewisser Weise die Schuld der Vorgängergeneration. Man kann sie auch "politische, wirtschaftliche, soziale oder kirchliche Erbschuld" nennen. Solche Altlasten müssen so weit wie möglich abgetragen werden, das ist die heutige Generation den zukünftigen Generationen schuldig. Diese Verantwortung kann man nicht einfach an den Bundesrat, das Parlament oder die Banken delegieren. Es ist eine kollektive Schuld. Neben der persönlichen Schuld muss man auch noch die der Vorfahren übernehmen und versuchen, negative Konsequenzen zu beseitigen oder mindestens zu mindern.

Individuelle Schuldbewältigung

Die kirchliche Schuldbewältigung geht von der Vergebung der Schuldenlast durch Gott aus. Was im Alten Testament galt, wurde in Jesus Christus einzigartig bestätigt und verstärkt. Menschen sind zur Wiedergutmachung verpflichtet, soweit eine solche überhaupt möglich ist. Aber sie werden nicht auf ihrer üblen Vergangenheit festgenagelt. Jesus Christus wurde stellvertretend für die Menschheit und deren ganze Schuld - gestern, heute wie morgen - ans Kreuz genagelt und durch die Auferweckung aus dieser Annagelung befreit. So hält Gott den Menschen ihre Zukunft offen. Die Hoffnung bleibt, von Gott einst für immer angenommen zu werden. Dieser Glaube und diese Schuldvergebung gilt nicht nur für jeden einzelnen Menschen, sondern auch für Gemeinschaften, die Völker und letztlich die ganze Menschheit.

Weil es eine Vergebung gibt, kann man der individuellen und der kollektiven Schuld nüchtern ins Auge blicken und sie anerkennen. Man braucht nichts zu beschönigen und nichts zu verschlimmern. Gott will und schenkt Versöhnung. Dies geschieht durch Besinnung, Bereuen, Bekennen, Wiedergutmachen und Bessern.

Gekürzt: Livenet

Autor: Hans Halter, Professor für Theologische Ethik, Hochschule Luzern

Datum: 20.05.2004
Quelle: Bausteine/VBG

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