Umgang mit Flüchtlingen

Wenn Enthusiasmus zu Enttäuschung wird

Die Arbeitsgruppe Interkulturell der Schweizerischen Evangelischen Allianz (SEA) lädt
Miriam Kerschbaum (Bild: zVg)

am 18. September 2021 zum Seminar «Wenn unser Enthusiasmus zur Enttäuschung wird: Mit Flüchtlingen dran bleiben – ohne Härte und Burnout». Es geht darum, sich eigenen Täuschungen zu stellen und sich damit auseinanderzusetzen, erklärt die Leiterin des Seminars, Miriam Kerschbaum, im Interview mit Livenet.

Miriam Kerschbaum, Sie laden zum Tagesseminar «Wenn unser Enthusiasmus zur Enttäuschung wird»; was beinhaltet es?
Miriam Kerschbaum:
Viele von uns haben begeistert begonnen, Flüchtlinge zu begleiten, haben sich mit sehr viel Energie für einzelne und Gruppen eingesetzt. Doch oft hält der Enthusiasmus nicht allzu lange. Die vielen schweren Geschichten haben müde gemacht oder negative Erlebnisse haben frustriert. Einige gehen auf Distanz, lassen es sich nicht mehr so nahekommen, zeigen eine gewisse Härte. Wieder andere geben alles und kommen an den Rand der Erschöpfung, Enttäuschung macht sich breit.

In diesem Seminar werden wir uns mit dem Wort Enttäuschungen beschäftigen: Enttäuschungen sind die Entlarvung von Täuschungen. Im Kontakt mit Flüchtlingen, die aus ganz anderen Kulturen kommen und oft ganz schwere Geschichten tragen, erleben wir

  • Täuschungen über uns selber: Warum wollen wir gern helfen? Was treibt uns an?
  • Täuschungen über die Flüchtlinge: Verstehen wir Ihre Andersartigkeit? Wo gehen wir von falschen Erwartungen aus, die sie gar nicht erfüllen können?
  • Täuschungen über unsere Beziehung: Welches Bild haben wir von der Beziehung zu Flüchtlingen und welches Bild haben sie?

Es geht darum, unsere eigenen Bilder zu erkennen und Täuschungen zu entlarven.

Was bewegt Sie dazu, dieses Seminar zu organisieren – gibt es so viele Menschen, die solche Dämpfer erlebt haben?
Im Kontakt mit Menschen, die mit Flüchtlingen unterwegs sind, begegnen mir die verschiedensten Menschen: solche, die nicht mehr viel an sich rankommen lassen, die sagen: «Da stimmt sowieso die Hälfte der Story nicht, das muss man nicht sehr ernst nehmen.» Wir begegnen Menschen, die sehr engagiert waren und jetzt nur noch das Negative sehen, die sich ausgenutzt fühlen und «bschisse». Mir begegnen aber auch Menschen, die sich selber aufgeben, die nur noch für andere da sind. Auf der anderen Seite gibt es aber auch solche, die Angst haben, dass, wenn sie den kleinen Finger geben, ihnen die ganze Hand gefressen wird, dass dann etwas erwartet wird, was sie gar nicht geben können. Oder es begegnen mir einfach auch viele Fragen, wie: Warum kommen sie nicht, obwohl sie zugesagt haben? Warum brechen sie plötzlich den Kontakt ab? Warum reagieren sie so?

Ich denke, dass Enttäuschungen dazu gehören. Jede und jeder, der/die mit Flüchtlingen unterwegs ist, erlebt sie. Und das ist auch nichts Schlimmes. Die Herausforderung ist, dass wir diese Enttäuschungen als Chance wahrnehmen, uns selber zu reflektieren, damit wir auf lange Sicht gesund bleiben können. Es ist auch gar nicht die Idee, dass dieses Seminar für Menschen wäre, die total ausgebrannt sind. Im Gegenteil: Alle, die mit Flüchtlingen unterwegs sind, möchte ich ermutigen, sich den eigenen Täuschungen zu stellen und sich damit auseinanderzusetzen.

Was sind die grössten Fallen und wie können diese umgangen werden?
Die oben genannten drei Themen sind meiner Ansicht nach die grösste Herausforderung: Die Andersartigkeit der anderen, meine eigene Persönlichkeit und die unterschiedliche Vorstellung unserer Beziehung zu einander. Sich diesen Herausforderungen bewusst zu werden, die ehrliche Reflektion mit mir selber und das Bewusstsein, dass Gottes Gnade schlussendlich das Gute bewirkt, scheinen mir die wichtigsten Faktoren dafür, in der Begleitung mit Flüchtlingen gesund zu bleiben. Dazu ist es sicher hilfreich, wenn man im Austausch mit anderen bleibt, wenn man selber einen Menschen oder Ort hat, wo man abladen und reflektieren kann.

Sie haben selbst einen tiefen Einblick in verschiedene Kulturen gewonnen – wie sieht Ihr persönlicher Weg diesbezüglich aus?
Nachdem wir von 1998 bis 2000 zum ersten Mal in Afghanistan waren, hat es uns 2006 nach dem Abschluss des Studiums und der Geburt von unseren zwei Kindern wieder ins Ausland gezogen. Wir waren nochmals drei Jahre in Afghanistan und dann vier Jahre in Sri Lanka. Als wir 2013 in die Schweiz kamen, war der Wunsch gross, weiterhin mit Migranten unterwegs zu sein. 2016 begann ich, als Deutschlehrerin für die AOZ (Asylorganisation Zürich) zu arbeiten und kam auch auf privater Ebene mit vielen Flüchtlingen in Kontakt, gerade auch aus dem persisch sprechenden Raum, also Iran und Afghanistan. Mit vielen durfte ich ein Stück Weg mitgehen bei ihrer Integration in die Schweiz.

Als ein besonderes Vorrecht erlebte ich, wie immer wieder Afghanen und später auch Iraner mit mir in Kontakt traten, die mit Jesus leben wollten. Ich begann, in der Gemeinde die Gottesdienste auf Persisch zu übersetzen und wir starteten eine Gruppe, in der Schweizer, Iraner und Afghanen zusammen die Bibel entdecken. Es ist nicht so, dass diese fünf Jahre einfach gradlinig nach oben verlaufen wären. Menschen, die eine Weile dabei waren, kamen nicht mehr, aber es kamen immer wieder neue dazu. Gemeinsam gehen wir vorwärts.

Zur Webseite:
Seminar «Wenn unser Enthusiasmus zur Enttäuschung wird»

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Datum: 02.08.2021
Autor: Daniel Gerber
Quelle: Livenet

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