Estland - dem Glauben entfremdet

Die alte Hansestadt Tallinn
Mädchen aus Estland

„Jugendarbeit gibt es hier auf dem Land nicht mehr, die jungen Leute haben kein Interesse mehr an der Kirche", berichtet Jüri Raudsepp. Wenn der lutherische Propst sonntags auf der Kanzel steht und predigt, sitzen vor ihm in den Bankreihen gerade einmal zehn, zwanzig Gläubige - zumeist ältere Menschen. „Ich würde es auch tun, wenn dort niemand sässe", sagt er. „Denn was bleibt noch ausser dem Gespräch mit Gott?"

Raudsepps Heimat Estland ist einer der am stärksten säkularisierten Staaten Europas. Etwa 80 Prozent der 1,4 Millionen Einwohner sind konfessionslos, eine Zahl, die selbst für den ehemaligen Ostblock ungewöhnlich hoch ist. Nirgendwo sonst sind die Auswirkungen der atheistischen Propaganda sowjetischer Prägung bis heute so deutlich spürbar wie in der nördlichsten der drei baltischen Republiken. Zum Vergleich: Im benachbarten Lettland sind etwa 88 Prozent Mitglied einer Kirche, in Litauen rund 80 Prozent.

Unterdrückte Kirchen

Seit der Christianisierung zu Beginn des 13. Jahrhunderts stand Estland der deutschen und skandinavischen Kultur nahe. Während der Blütezeit der Deutschen Hanse waren die estnischen Städte Reval (das heutige Tallinn), Narva, Dorpat, Viljandi und Pernau florierende Handelszentren. 1523 erreichte die Reformation Estland. Bis zum Zweiten Weltkrieg bleib die Lutherische Kirche die grösste und bedeutendste Glaubensgemeinschaft. Ihr gehörten Ende der 30er Jahre rund 78 Prozent der Staatsbürger an.

Nach der Annexion durch die UdSSR 1940 traten in Estland die russischen Religionsgesetze in Kraft: Kirchen wurden geschlossen, der gesamte kirchliche Besitz verstaatlicht. Religionsunterricht und Mission waren fortan verboten. Die Presse verhöhnte den Glauben an Gott. Wer an seiner christlichen Überzeugung festhielt, galt als dumm und rückständig und musste mit Schwierigkeiten in der Schule, am Arbeitsplatz oder bei der Wohnungssuche rechnen.

Als sich Estland Anfang der 90-er Jahre vom Kommunismus lossagte, hatten auch die Kirchen Anteil an der nationalen Aufbruchstimmung. Vor allem die Lutherische Kirche verzeichnete regen Zulauf. 1990 wurden 11500 junge Menschen konfirmiert. Der Aufwärtstrend erwies sich allerdings als Strohfeuer: Fünf Jahre später lag die Zahl der Konfirmanden nur noch bei rund 4000. Heute sind Lutheraner mit ca. 177000 Mitgliedern nach wie vor die grösste Konfession, gefolgt von der Orthodoxen Kirche. Zudem gibt es jeweils einige wenige Tausend Katholiken, Baptisten und Methodisten.

Schwieriger Neubeginn

Der ökonomische Aufschwung der vergangenen Jahre hat Estland den Namen „baltischer Tiger" eingebracht. Politisch und wirtschaftlich öffnet es sich dem Westen, seine Aufnahme in Nato und EU ist beschlossene Sache. Doch findet Estland auch wieder zu seinen christlichen Wurzeln zurück?

Im Dezember 1991 nahm die Estnische Bibelgesellschaft nach 50 Jahren Zwangspause ihre Arbeit wieder auf. Die Bibel in einem Land ohne Gott bekannt zu machen und die kleinen, mitgliederschwachen Kirchen zu unterstützen, sind ihre wichtigsten Anliegen. Kurze Zeit nach der Wiedereröffnung begann die Bibelgesellschaft, die Heilige Schrift neu auf Estnisch zu übersetzen. Während der sowjetischen Herrschaft war die Bibel ein verbotenes Buch, das durch den Eisernen Vorhang geschmuggelt werden musste. Die damalige Übersetzung - das Werk von Exilanten - war fehlerhaft und sprachlich veraltet. Im Jahr 1997 wurde die aktualisierte Fassung des Neuen Testaments veröffentlicht. Zurzeit wird das Alte Testament einer Revision unterzogen. Das Buch Jona liegt mittlerweile vor.

Diese Projekte sind dank der finanziellen Hilfe durch den Weltbund der Bibelgesellschaften realisierbar. Denn trotz der positiven wirtschaftlichen Entwicklung ist Estland immer noch alles andere als wohlhabend.

Wie schon die Generation ihrer Eltern wachsen die meisten estnischen Kinder auf, ohne Jesus zu kennen. Den christlichen Glauben an Kinder und Jungendliche weiterzugeben, ist daher vorrangiges Ziel der Kirchen. Auch die Bibelgesellschaft sieht das Fehlen religiöser Bindungen mit Sorge: Sie beabsichtigt, kostenlose Kinderbibeln und Bibel-Atlanten verteilen zu lassen. Weitere Bücher für Kinder sollen zum Sonderpreis angeboten werden.

Webseite: www.bibelgesellschaft.de

Datum: 24.01.2003
Quelle: Deutsche Bibelgesellschaft

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