Gemeindegründung in Europa

«Neue Gemeinden sind vital»

Europas Kirchenlandschaft wird bunter. Dazu tragen Neugründungen von christlichen Gemeinden bei. Der Gemeindeforscher Reinhold Scharnowski spürt den Puls der Szene.
Strassenszene in Vence in Südfrankreich
Redaktor Reinhold Scharnowski

Livenet: Reinhold Scharnowski, was fasziniert Sie an Gemeindegründung und neuen Gemeinden?
Reinhold Scharnowski: Das gleiche, das mich an Eltern fasziniert, die Kinder bekommen: Dass das Leben frisch weitergeht. Es gibt nichts Natürlicheres, als dass Gemeinden Gemeinden gründen – denn die wahre Frucht eines Apfelbaums ist ein neuer Apfelbaum. Neue Gemeinden sind vital, existentiell missionarisch und das beste Mittel, dass Gott in einer Region oder einem sozialen Bereich bekannt wird, wo es vorher noch kein lebendiges Zeugnis gab.

Sie haben an einer Konferenz mit Tim Keller in Berlin teilgenommen. Welche Akzente hat sie zu Gemeindegründung gesetzt?
Tim Keller ist der Pastor der Redeemer Church in New York. Er hat in den letzten Jahren ein grossartiges Netzwerk von Gemeinde-Neugründungen in europäischen Städten wachsen lassen. In Berlin waren nach meiner Schätzung 400-500 saftige GemeindegründerInnen zusammen, die hoch motiviert sind, speziell in unseren Städten neue Gemeinden zu bauen und es zum Teil schon sehr erfolgreich tun.

Mir wurde persönlich bewusst, dass die Städte ganz andere Arten von Gemeinden brauchen als Vororte oder ländliche Gebiete und dass Gemeindegründer in Städten quer durch die Denominationen mehr miteinander gemeinsam haben als oft innerhalb ihrer Bewegung. Tim Keller hat aus dem schnellen New York viel Erfahrung mitgebracht, von dem mir erstaunlich viel umsetzbar erschien.

Wie viele Gemeinden wurden im EU-Raum seit 2000 gegründet?
Das wüsste ich auch gern. Den Überblick hat niemand, darum arbeiten wir intensiv an der Vernetzung der grösseren Gemeindegründungs-Bewegungen. Als zentraler Hub bildet sich eurochurch.net heraus. Ich werde die europäische Arbeit von DAWN auf Ende Jahr in eurochurch.net integrieren. Wir haben als eurochurch einen umfassenden Research angefangen, der zum ersten Mal Gemeindegründung auf europäischer Ebene sichtbar machen wird. In einem Jahr kann ich diese Frage wahrscheinlich präziser beantworten.

Wie kann man neue Gemeinden gruppieren?
Ganz grob würde ich neue Gemeinden in öffentliche, organische und kreative Gemeinden einteilen. Die meisten sind traditionelle Gottesdienst-Gemeinden. Dann gibt es die grosse Menge der organischen Hauskirchen, die fast nicht überblickbar sind. Und dann viele neue Typen, die kreativ, künstlerisch, alternativ sind. Etwas detaillierter habe ich für die Schweizer Situation 10 Typen von Gemeinden, definiert, die heute wahrscheinlich schon wieder ergänzt werden müssten.

Wie sind die Gemeindegründer vernetzt?
Gemeindegründer sind – neben ihren eigenen Bewegungen – häufig national vernetzt, das heisst unter einer gemeinsamen Vision wie etwa DAWN in Norwegen oder 1/10‘000 in Frankreich. Leiter von Gemeindegründungs-Netzwerken wiederum treffen sich in nationalen Konsultationen wie etwa in Deutschland eurochurch.net führt länderübergreifende Treffen durch.

Was wird heute anders angegangen als vor 20 Jahren?
Ganz klar ist die Gesellschaftsorientierung heute stärker. Man merkt, dass Gemeinde nur im Bezug mit der Welt, die Gott liebt, Sinn macht. Immer mehr Gemeindegründungen haben darum – oder entstehen sogar aus – sozialen oder künstlerischen oder anderen gesellschaftsrelevanten Aktivitäten. Gott zielt eben immer wieder auf Gemeinde-Werdung hin.

Was bedeuten neue Gemeinden für Christen, die sich von etablierten Gemeinden distanzieren?
Sie sind sehr wichtig für sie, denn sehr oft wollen solche Christen nicht «keine» Gemeinde, sondern eine radikal andere Art – mehr lebensbezogen, mehr missionarisch, mehr gesellschaftsorientiert. Natürlich gibt’s auch «Unzufriedene», die das in eine neue Gemeinde mitnehmen. Aber sehr viele der Christen, die nicht mehr in eine Gemeinde gehen, suchen nach ganz neuen Ausdrucksformen.

Die Evangelische Kirche in Deutschland strebt im Reformprozess eine Vielfalt von Gemeindeformen an und will ihren Wettbewerb fördern. Bejahen auch in anderen Ländern alteingesessene Landeskirchen neue Gemeindeformen?
In Norwegen hat die Lutherische Kirche einige Initiativen lanciert. In England ist es schon lange normal, dass die Anglikaner neue Kirchen und Formen gründen. Aber das parochiale Prinzip ist immer noch ein grosses Hindernis für wirklich kreative Neugründungen.

Zum Interviewpartner:

Der Theologe und Gemeindeforscher Reinhold Scharnowski leitet das europäische Netzwerk von DAWN, ist Mitarbeiter bei Eurochurch.net und vernetzt Gemeindegründer in Europa. Daneben unterrichtet er Gemeindebau am IGW und arbeitet bei Sportlife in der Region Thun mit.

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Webseite:
Netzwerk von DAWN

Datum: 31.10.2011

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