Die wahren Fundamentalisten sind die anderen

Kreationismus
Schöpfung
Schöpfungslehre

Zürich. Die Debatte um den Kreationismus geht weiter. Am Dienstag veröffentlichten wir ein Interview der Nachrichtenagentur Kipa mit Martin Scheidegger, Leiter der ökumenischen Beratungsstelle "Religiöse Sondergruppen & Sekten" in Luzern unter dem Titel: "Das Attraktive am Kreationismus sind die einfachen Antworten".

Ausserdem publizierten wir am gleichen Tag die Stellungnahme der ProGenesis zum Interview mit dem reformierte Pfarrer und Psychotherapeut Martin Scheidegger unter dem Titel: „Gibt es am Fundament der Nächstenliebe etwas auszusetzen?“

Jetzt hat die Kipa nachgezogen und einen Hintergrundbericht über ProGenesis verfasst, den wir auch wieder veröffentlichen. Unten angehängt sind noch zwei Kommentare die sich einerseits zum Interview von Martin Scheiddeger äussern und sich auch auf ProGenesis allgemein beziehen.

Biblische Schöpfungslehre an Schweizer Schulen

Für den Unternehmensberater Gian Luca Carigiet (45) ist die Bibel ein historischer Tatsachenbericht, Darwins Evolutionslehre hingegen eine unbewiesene Theorie mit fatalen moralischen Folgen. Carigiets Kreationismus-Verein "ProGenesis" verlangt deshalb, dass an Schweizer Schulen auch die biblische Schöpfungslehre unterrichtet wird.

Schöpfung, Sündenfall, Sintflut: So steht es in der Bibel, und genau so war es auch. Davon ist jedenfalls Gian Luca Carigiet (45) fest überzeugt, denn für den Verfechter der biblischen Schöpfungslehre ist die Bibel nicht menschliches Werk, sondern "von A bis Z von Gott inspiriert" - und damit eine nicht hinterfragbare, absolute Autorität. Auch was der göttliche Heilsplan für die Zukunft bereithält, lässt sich nach seiner Überzeugung aus den Prophezeiungen in der Bibel ablesen: Die vorhergesagten "ersten Wehen der Endzeit" – die beiden Weltkriege, die Gründung des Staates Israels und die Eroberung von Ostjerusalem durch Israel im Jahre 1967 – seien bereits eingetreten. Jetzt werde die Bühne bereitet für den letzten Akt: die "grosse Trübsal".

Bibeltreue sammeln sich zur "Ehrenrettung" der Schöpfung

Mit dieser Weltsicht ist der Unternehmensberater Carigiet – der in einer streng katholischen Familie aufwuchs, der Kirche jedoch den Rücken kehrte, jahrelang verschiedene Religionen studierte, die Antwort auf "die Sinnfrage aber nur in der Bibel" fand – nicht allein. Rund 260 bibelgläubige Anhänger der Schöpfungslehre umfasst der von Carigiet letztes Jahr gegründete Verein "ProGenesis", der zur "Ehrenrettung" der biblischen Schöpfungslehre angetreten ist (siehe Separat).

Der sogenannte Kreationismus, dem sich "ProGenesis" verschrieben hat, ist eine Form des christlichen Fundamentalismus. Gegen den "Schlag mit der Fundamentalismuskeule", wie Carigiet sagt, setzt er sich allerdings vehement zur Wehr. "Wahrer christlicher Glaube und Fundamentalismus erachten wir als Widerspruch", betont Carigiet. "Wir stützen uns auf das von Jesus vertretene und gelebte Liebesgebot. Wenn man das dann unbedingt Fundamentalismus nennen will, dann wäre dies, im Gegensatz zu allen anderen Fundamentalismen, eine Wohltat für die Menschen."

Politische und juristische Mittel

Die "eigentlichen" Fundamentalisten haben die Kreationisten anderswo ausgemacht: Es sind die Anhänger der von Charles Darwin begründeten Evolutionslehre. Wissenschaft, Schule und Medien hätten die Evolution längst zum Dogma erhoben und würden die Evolutions-Kritiker totschweigen, dabei sei die Evolution bis heute eine unbewiesene und unlogische Theorie, ist Carigiet überzeugt.

Die Evolutionisten hätten zwar den Anspruch, wissenschaftlich zu sein, würden jedoch einer "unbeweisbaren Glaubensüberzeugung" anhängen. Und: "Ein Schöpfergott ist mindestens eben so logisch und wahrscheinlich wie die Entstehung des Lebens durch Zufall. Es sprechen jedenfalls gute Indizien für die Schöpfung."

Deshalb fordert "ProGenesis", dass an den Schweizer Schulen die biblische Schöpfungsvorstellung gleichberechtigt neben der Evolutionslehre unterrichtet werde. Jeder Schüler könne dann selber entscheiden, an was er glauben wolle, so Carigiet. Mit dem Versand eines 200-seitigen Buches an alle Mittelschulen und Universitäten wollen die Kreationisten den Pädagogen im nächsten Frühling das "Schöpfungsmodell als Alternative zum Evolutionsmodell" schmackhaft machen. Gleichzeitig prüft der Verein die "politischen und juristischen Möglichkeiten" zur Einführung der Schöpfungslehre als obligatorischem Schulstoff.

"Ohne Gott keine Ethik"

Um eine akademische Debatte geht es den Kreationisten bei allem Argumentieren contra Evolution und pro Schöpfung freilich nicht: Sie wollen vielmehr die "atheistische Weltanschauung" Evolution in die Schranken weisen, die ihrer Ansicht nach zu einem grossen Teil Schuld ist am Niedergang der Moral in der Gesellschaft. Kolonialismus, Nationalsozialismus oder Kommunismus – jede dieser Ideologien habe sich zur Rechtfertigung ihrer Verbrechen auf die darwinistische Maximen der "natürlichen Auslese" und des "Überlebens des Stärksten" berufen, argumentiert "ProGenesis".

"Wer sagt einem Evolutionisten, was gut und was böse ist? Der Oberaffe?" fragt Carigiet und fügt an: "Nur der Glaube an einen Schöpfergott kann ethische Orientierung bieten." Die als Wahrheit verkündete Evolutionslehre hindere ausserdem viele daran, zu ihrem Glauben zu stehen. "Denen wollen wir Mut machen: Die Evolution ist nur eine Theorie. Es sprechen gute Indizien für die Schöpfung. Euer Glaube an Gott ist also nicht so naiv, wie viele sagen."

Offene Ohren bei den Schweizern?

Carigiet ist überzeugt, mit seiner Botschaft, "dass der Urknall nur in den Köpfen einiger Wissenschafter existiert und dass wir nicht unbedingt von Affen abstammen müssen", auf offene Ohren zu stossen. Zwei Drittel der Schweizer, sagt Carigiet, würden nämlich an die Schöpfung oder an eine von Gott gelenkte Evolution glauben; nur jeder Fünfte sei ein "knallharter" Evolutionist.

Repräsentativ ist die von "ProGenesis" durchgeführte Befragung, auf die sich Carigiet dabei stützt, allerdings nicht, wie er selber einräumt: Es nahmen lediglich 57 Personen daran teil. Dennoch zeige die Umfrage eine Tendenz auf, glaubt Carigiet. Ausserdem habe "ProGenesis" eine repräsentative Umfrage in Auftrag gegeben, deren Ergebnisse im nächsten Frühling veröffentlicht werden sollen.

Der Verein "ProGenesis"

Der "Überkonfessionelle Verein zur Ehrenrettung des Buches Genesis" – kurz "ProGenesis" - wurde im August 2001 vom Unternehmensberater Gian Luca Carigiet gegründet, ist aber erst diesen Herbst an die Öffentlichkeit getreten.

Bis heute nicht bewiesen

"ProGenesis" will die Öffentlichkeit darüber aufklären, "dass die Bibel entgegen der Behauptung moderner liberaler Theologen historisch relevant und Gott eine erfahrbare Realität ist, kein mythologisches Märchen oder ein der Natur innewohnendes Urprinzip." Vor allem aber weisen die Kreationisten unermüdlich darauf hin, dass die Evolutionslehre bis heute nicht bewiesen sei und ihrer Ansicht nach keine befriedigenden Antworten auf die fundamentalen Fragen gebe, was Leben sei und wie es entstand. Die Bibel hingegen erkläre dies schlüssig.

Zur Zeit zählt "ProGenesis" nach eigenen Angaben 260 Mitglieder (darunter Katholiken, Protestanten, Freikirchler und aus der Kirche ausgetretene Christen), der Verein strebt aber nach Höherem. Carigiet – nach eigenen Angaben ein "Bibelgläubiger ohne Bindung an irgendeine Kirche" – möchte seinen Verein auf den ganzen deutschsprachigen Raum ausdehnen; bereits heute erscheint das Vereinsorgan "flash" alle drei Monate in einer Auflage von 6.000 Stück.

KOMMENTAR

Thomas Hafner

Theologe verteidigt angegriffenen Keationisten-Verein “ProGenesis”

Der Verein ProGenesis wurde 2001 gegründet. Nachdem dieser in der Sonntagszeitung kritisiert worden war, veröffentlichte die katholische Nachrichtenagentur Kipa kürzlich ein Interview mit dem reformierten Luzerner Sektenexperten Martin Scheidegger. Dieser bezeichnete ProGenesis als eine Form von christlichem Fundamentalismus, der mit der absoluten Autorität der Bibel argumentiere. Im Weiteren sagte Scheidegger gegenüber Kipa, dass dieser Fundamentalismus den Menschen entmündige und ein einfaches Schema der Weltgeschichte liefere, womit aber die Probleme nicht gelöst würden. Der Theologe Thomas Hafner nimmt dazu Stellung.

Man kann sich fragen, warum zur Beurteilung eines Vereins mit einem bildungspolitischen Ziel ein Sektenspezialist angefragt wurde. Warum nicht ein Wissenschaftler oder Pädagoge? Steht bereits fest, dass ProGenesis eine sektiererische Gruppierung ist? Das Interview mit Pfr. Martin Scheidegger gehört für mich in die Kategorie "verunglückt". Zum einen baut es unnötigerweise ein Feindbild auf, zum andern wird es dem vielschichtigen Phänomen "Kreationismus" nicht gerecht.

Feindbild "Fundamentalismus”

Wieso müssen problematische Ansichten über die Entstehung der Welt und des irdischen Lebens beziehungsweise über den Charakter und Sinn biblischer Texte sogleich im ersten Satz als Fundamentalismus abgeurteilt werden? Wieso werden sie später als "gefährlich” eingestuft? Vielleicht sollte man sich daran erinnern, dass Pro Genesis lediglich die Sicht vertritt, die in der gesamten Christenheit rund 1800 Jahre geglaubt wurde? Waren die Christen vor Darwin allesamt gefährliche Fundis? Wohl kaum.

Der Vorwurf des Fundamentalismus erschwert die Verständigung zwischen den Lagern und trägt nichts zum Verständnis der Materie bei. Ich fürchte, dass die Äusserungen jene bestätigen, die ein strenges und zu enges Bibelverständnis haben. Ich wünsche mir um des Gespräches willen, dass beide Seiten auf das Keulenschwingen verzichten, ganz gleich ob die Keulen Fundamentalismus, Liberalismus, Wortgläubigkeit oder Wissenschaftsgläubigkeit heissen. Besser ist es, wenn man wie Scheidegger zu beschreiben versucht, was man unter Fundamentalismus versteht. Er setzt allerdings die Inspirationslehre, die durchaus der Bibel zu entnehmen ist, mit der Diktattheorie gleich. Damit bin ich bei den unzulässigen Vereinfachungen.

1. Einseitige psychologische Erklärung zur Mitgliedschaft:
Scheidegger erklärt sich die Anziehungskraft ganz einfach aus dem menschlichen Bedürfnis nach "einer einfachen und umfassenden Erklärung und Deutung der Welt". Ebenso plausibel ist die Annahme, dass Menschen sich durch die besondere Pioniersituation herausgefordert fühlen. Da kämpft man gegen Windmühlen. Ist es nicht aufregend, dabei zu sein? Ein dritter möglicher Grund könnte die Hoffnung sein, dass sich durch die Einführung der Schöpfungslehre etwas Grundlegendes unter der Jugend und damit in der Gesellschaft ändert.

2. Der Kreationismus-Eintopf:
Es gibt nicht "den" Kreationismus, sondern zwei Hauptströmungen. Meistens wird nur der aus den USA hereinströmende Kurzzeit-Kreationismus wahrgenommen, zu dem auch ProGenesis gehört. Er vertritt ein sehr junges Erdalter, bestreitet die gängigen Altersbestimmungen. Daneben gibt es den Langzeit-Kreationismus, der mit Schöpfungsakten in Laufe der üblichen geologischen Zeitalter rechnet, von einer Entstehung und Entfaltung des Lebens durch Zufall aber aus Vernunftsgründen absieht. Evolution kann bei der Entstehung der Vielfalt des Lebens mitgespielt haben.

3. Entmündigungstheorie:
Scheidegger spinnt seinen Fundamentalismus-Faden weiter und kommt zur haarsträubenden Behauptung, der angesprochene christliche Fundamentalismus sei entmündigend. Er nehme den Menschen "ein Stück weit aus seiner Verantwortung. Der Mensch ist eben so, wie er von Gott gemacht wurde; ... Kriege und Katastrophen sind Teil des göttlichen Heilsplans. Diese fundamentalistische Deutung. delegiert die Verantwortung für das, was geschieht, vom Menschen an eine höhere Macht.” Klingt einleuchtend, nur schade, dass es bei den meisten der angesprochenen Fundis nicht so läuft! Die Behauptung stimmt nur für ein ganz schmales Stück des christlichen "Fundamentalismus-Kuchens”. Viele sogenannte Fundamentalisten überlassen die Welt nicht ihrem trüben Schicksal. Es werden Vereine wie Pro Genesis, Pro Life (gegen die Zwangsfinanzierung von Abtreibungen) gegründet, Drogenentzugsstationen, Notschlafstellen und vieles mehr eröffnet.

4. Sektiererische Engführung
Am Schluss des Interviews dann ein vereinfachtes Bibelverständnis. Scheidegger:"Was wir in der Bibel finden, sind zeitgebundene Vorstellungen und Bilder über Gott und den Ursprung. Wir sind immer auf solche Bilder angewiesen, aber wirklich erfassen können wir Gott damit wohl nie. Er ist immer anders, als wir ihn uns ausmalen."

Ich bin nicht gegen die Aussage, es gebe in der Bibelzeitgebundene Vorstellungen und Bilder über Gott und den Ursprung, sondern die Behauptung, diese seien ein rein menschliches Produkt. Der Sektenexperte scheint zu meinen, die Bibel sei von Menschen geschrieben, die versucht hätten, ihre Erfahrung oder Begegnung mit Gott in Worte zu fassen. Damit begibt sich der Experte in einen Widerspruch zu Jesus, dem Christus, der alles, was geschrieben steht, als Gottes Wort verstanden wissen wollte (Lk 24, 25; Mt 22, 31-32). Dieses Urteil ist die Überzeugung der allermeisten Christinnen und Christen aller Jahrhunderte. Wenn Martin Scheidegger das anders sieht, sei ihm diese Freiheit gegönnt. Vor dem Forum der Kirche hat sie jedenfalls keinen Bestand.

KOMMENTAR

Rolf Höneisen

„Gefährliche“ Schöpfung – „intelligenter“ Urknall?

„Aber das Rezept des christlichen Fundamentalismus scheint mir zu einfach zu sein – und in gewissem Sinn auch gefährlich.“ Das sagte der Theologe und Psychotherapeut Martin Scheidegger im Rahmen eines Gesprächs über den sog. Kreationismus. Dabei ist die Schöpfungstheorie nichts anderes, als das Vertrauen in die biblischen Aussagen auch dort, wo es um die Erschaffung des Lebens geht. - Was ist daran gefährlich, Herr Scheidegger?

„Während meines Forschungsaufenthalts in den USA habe ich miterlebt, welchen Schaden die fundamentalistischen Anhänger des biblischen Schöpfungsglaubens der Naturwissenschaft Biologie zufügen können.“ Das sagt der deutsche Evolutionsbiologe Ulrich Kutschera. – Was ist daran schädlich, Herr Professor?

Am 22. Oktober stellten sich Vertreter des Vereins ProGenesis in Zürich vor. Sie setzen sich dafür ein, dass neben der Evolutionstheorie auch alternative Ursprungserklärungen auf gleicher Augenhöhe diskutiert werden, in diesem Fall eben die Schöpfungstheorie aufgrund der Bibel. Erfreulich, dass Journalisten der „Sonntagszeitung“ das Thema so ernst nahmen, um mit dabei zu sein. Enttäuschend, dass sie Unwahres in zweihunderttausendfacher Auflage verbreiteten.

Am ProGenesis-Abend wurde gesagt, man wolle ein alternatives Ursprungsmodell erarbeiten und öffentlich machen, bis hinein in die Schulen. Punkt. Die „Sonntagszeitung“ dichtete später munter drauflos: „Christliche Fundamentalisten wollen die Evolutionslehre aus Schweizer Schulbüchern verbannen.“ Wumm! Und ein zweites Mal schlug die Fundamentalisten-Keule zu: „Sollten die Kreationisten dabei auf Widerstand stossen, planen sie, die nötigen Lehrplanänderungen mit Prozessen gegen die kantonalen Erziehungsdirektoren zu erzwingen.“ Alle Versammlungsteilnehmer wissen: Das sind Lügen.

Ich frage mich: Was ist nun wirklich gefährlich? Was ist tatsächlich schädlich? Warum die Aufregung, warum dieser Angriff gegen eine kleine Gruppe von Menschen, die hinter dem Leben einen Schöpfer sehen und die Bibel als verbindliche Richtschnur für Leben, Denken und Handeln betrachten?

Grad vorhin las ich im Epheserbrief Sätze, die mich tief berühren. Sie reden von der Absicht Gottes mit dem Menschen und erklären, wozu er sie erschaffen hat: „Schon vor Beginn der Welt, von allem Anfang an, hat Gott uns auserwählt. Wir sollten zu ihm gehören, befreit von aller Sünde und Schuld. Ja, seine eigenen Kinder sollten wir werden, durch seinen Sohn Jesus Christus. Das hat Gott schon damals aus Liebe zu uns beschlossen.“ (Eph. 1,4 und 5, Hfa). - Nein, an den „intelligenten“ Urknall kann ich nicht mehr glauben.

Rolf Höneisen
Chefredaktor „factum“
redaktion@factum-magazin.ch
www.factum-magazin.ch

Quellen: Kipa/idea schweiz/factum

Datum: 28.11.2002

Werbung
Livenet Service
Werbung