Hope für scheinbar Hoffnunglose

«Wir erleben kleine und grosse Wunder»

Unermüdlich hat sich Daniela Fleischmann als Geschäftsleiterin von «Hope - Christliches Sozialwerk» in Baden (AG) für die
Daniela Fleischmann (Bild: zVg)

Menschen am Rande der Gesellschaft eingesetzt. Nun tritt sie in den Ruhestand. Gegenüber Livenet blickt sie zurück auf bewegende Jahre.Daniela Fleischmann, «Hope» ist für die Schwachen der Gesellschaft da, was bewegt Sie bei der täglichen Arbeit?
Daniela Fleischmann:
Die Frage, wer schwach ist, ist hier zentral. Ein Mensch, der zum Beispiel Gott sucht, ist nicht schwach, aber er sucht. Und so sind auch Obdachlose nicht schwach, sie suchen Obdach. Und wenn ich Gemeinschaft suche, habe ich ein Bedürfnis und freue mich, wenn mir jemand hilft, das Bedürfnis zu stillen. Wir verstehen uns auf Augenhöhe. Wir haben Bedürfnisse und Mängel, Hope hat sich auf Grundbedürfnisse spezialisiert. Aber wenn ich Obdachlose beobachte, wie sie durchs Leben kommen, komme ich mir daneben sehr schwach vor. Wir begleiten einen Obdachlosen, der ohne Geld seit Jahren in unserem Umfeld lebt und das ohne eine einzige Anzeige wegen Diebstahl. Diese Menschen beeindrucken mich. Die können etwas, das ich nicht kann (und auch nicht suche!).

Was beobachten Sie beim Blick auf unsere Gesellschaft?
Was uns immer wieder bewegt, ist die Tatsache, dass die Gesellschaft immer strukturierter und starrer wird und so andere Lebensentwürfe kaum mehr zulässt. Die rechtlichen und administrativen Aufwände, die geleistet werden müssen, um eine flottante Person mindestens rechtlich und finanziell wieder zu integrieren, sind enorm und von der betroffenen Person alleine nicht mehr zu meistern. Wer sein Recht nicht genau kennt, wird weggewiesen und hat keine Chance. Ob rechtlich korrekt oder nicht ist Behörden oft egal, Hauptsache, die Person geht. Junge Erwachsene, die bewusst gesteuert von der Sozialbehörde nur so wenig Geld für Wohnraum bekommen, damit sie im Wohnort sicher nichts finden und wegziehen müssen, in eine «Absteige», ein schmutziges Zimmer ohne Küche. Wir haben mittlerweile so viele «Wohnungslose», das sind Menschen, die genau so leben oder bei Kollegen auf dem Sofa, mit der Gefahr im Nacken, dass der Kollege heute keine Lust hat und sie hinausstellt. Bei Frauen wird die Situation durch sexuellen Missbrauch noch unwürdiger.

Was bewegt Sie in Ihrem Alltag?
Ein weiterer Punkt, der uns bewegt, ist die Situation, dass die Gesellschaft dem Menschen höchste Verantwortung gibt für sein Leben. Das tönt schön, doch wenn der Mensch krank ist, kann er diese Verantwortung nicht mehr wahrnehmen. Und da schaut die Gesellschaft einfach weg. Die Gesellschaft lässt diese Menschen auf der Strasse leben, solange sie sich selbst und anderen nichts antun. Sie werden überall weggeschickt, wenn sie sich im Winter bei tiefen Minustemperaturen im Bahnhofwartesaal einnisten wollen, werden sie kurzerhand auf die Strasse gestellt. Diese würdelosen Leben könnten verändert werden, wenn die Gesellschaft Verantwortung übernehmen würde. Aber was uns auch immer wieder bewegt ist die Solidarität, die wir gerade beim Aufbau der Notschlafstelle gespürt haben. Die Menschen wollen unterstützen und wenn sie eine Gelegenheit sehen, machen sie es. So war es mit der Stadt, im Quartierverein, mit den Nachbarn, mit Spendern. Das hat uns gewaltig geholfen.

Wie gehen Sie mit mittel- und obdachlosen Arbeitsmigranten um?
In der Schweiz bekommen sie keine finanzielle Unterstützung, die ihre Situation wirklich verändern kann. Das ist auch sicher richtig so, unser Staat hat seine Regeln, die wir akzeptieren. Doch dann stehen sie vor der Türe der Notschlafstelle, Menschen, die kein Geld, kein Obdach, kein Essen, nur eine trügerische Hoffnung auf Arbeit haben. Wir können ihnen eine Nacht im warmen Bett und Essen geben. Am anderen Tag müssen sie weiterziehen. Dieses Spannungsfeld zwischen Verstand und Herz ist für unsere Mitarbeitenden schwer auszuhalten.

Was erleben Sie in der täglichen Arbeit?
Unser Alltag ist sehr bunt, meistens haben wir kaum fixe Termine, doch am Abend schauen wir auf einen prall gefüllten Tag zurück mit Beratungen, Begleitungen, Ermutigungen, Zeiten, in denen wir mit Menschen mitweinen oder mitlachen. Wir sind für viele eine Familie, das haben wir gerade in der Coronazeit stark realisiert.

Sie sehen viel Leid, gleichzeitig können Sie Hoffnung geben – was überwiegt?
Unsere Gäste, wie zum Beispiel die Obdachlosen der Notschlafstelle, haben viele Probleme, aber sie kommen in die Sozialberatung, weil sie eine Hoffnung haben. Da können wir viel unterstützen. Das ist unser Fokus. Wir selber leben im Vertrauen, dass Gott uns in dieser Arbeit unterstützt und versorgt. Ohne diese Hoffnung wäre die Arbeit schwierig. Aber so macht sie immer wieder Freude und wir dürfen oft kleine und grosse «Wunder» erleben, die wir freudestrahlend erzählen.

Wie hat Hope bisher während Corona gearbeitet?
Wir durften während der Coronazeit als soziale Anlaufstelle das Restaurant geöffnet halten. Alle Treffpunkte und sonstigen «Gemeinschaftsangebote» und Tagesstrukturen waren geschlossen. Das Restaurant musste fast wöchentlich die Schichten und Vorgehensweisen anpassen, doch es funktionierte und die Leute hatten ein warmes Essen. Die Gemeinschaft wurde per Übertragungen durch unseren Sozialleiter Stephan Grossenbacher gepflegt, was sehr geschätzt war. Da kam seine herrlich unkomplizierte Art, das Evangelium mit dem Alltag zu verbinden, zum Vorschein! Unsere Gäste haben es geschätzt und genutzt. Es gab auch ein seelsorgerliches Telefon.

Wie sah die Lebensmittel-Verteilung aus?
Die Lebensmittelabgabe wurde überhäuft mit Lebensmitteln, die niemand wollte. Kurzerhand wurde ein Kühlwagen von der Brauerei Müllerbräu geholt, der Nachbarbetrieb Mäder AG hat einen Parkplatz zur Verfügung gestellt und schon waren wir bereit, die Lebensmittel aufzufangen. Jungwacht/Blauring Wettingen half mit, fast 600 Säcke mit total knapp sechs Tonnen Gewicht an Armutsbetroffene zu verteilen. Und die Glückskette half uns, das Ganze zu finanzieren. Das ist gelebte Solidarität.

Welches sind die Helden Ihres Alltages?
Für mich sind es die Menschen, die trotz grosser Schwierigkeiten Leichtigkeit und Fröhlichkeit bewahren. Es sind Menschen, die immer wieder vergeben können, dankbar sind für das, was kommt und der Bitterkeit keine Chance geben. Diese Vorbilder nehme ich mit in den Ruhestand und versuche es, ihnen gleich zu tun.

Was waren die prägendsten Erlebnisse in der Arbeit – und was kommt danach?
Es ist wie mit der Bibel, es ist die Summe, die die Arbeit so schön machte. Die Einheit im Team, die Wunder Gottes, die wir immer wieder erleben durften, die tiefsinnigen Besucherinnen und Besucher, die mir so viel gaben, die Menschen, die hinter Hope stehen. Dieses Miteinander ist das Prägendste. Das «Danach» ist noch sehr offen. Zuerst brauche ich eine Erholungszeit, da meine Gesundheit etwas gelitten hat. Gleichzeitig sind mein pensionierter Mann, die sechs kleinen Enkel und die betagten Eltern im Fokus. Und ich bin offen für das, was Gott mit mir vor hat.

Zur Webseite:
Stiftung Hope

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Datum: 14.07.2020
Autor: Daniel Gerber
Quelle: Livenet

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