Welche Grundlage kann die EU tragen?

Kardinalprimas Jozef Glemp

Warschau – Der EU-Konvent zur Zukunft Europas ist nach Ansicht des polnischen Kardinalprimas Jozef Glemp nicht repräsentativ für die Europäer. Der Entwurf für die künftige Verfassung der Europäischen Union werde von "politischen Eliten" ausgearbeitet, die zwar "andere anhören, aber dann doch machen, was sie wollen". Dies sagte der konservative Kirchenfürst in einem Zeitungsinterview.

‚Gott‘ bleibt draussen

Glemp kritisiert, dass das Naturrecht (es besteht laut der christlichen Tradition aus überstaatlichen, von Gott vorgegebenen und durch Vernunft erkennbaren sittlichen Normen) im Entwurf ausgeblendet werde. Weiter werde Gott nicht erwähnt. Dies lasse darauf schliessen, dass im Konvent "eine Ideologie am Werk" sei. Schon Lenin habe den "Fehler" begangen, Gott zu missachten, betonte der polnische Kardinal weiter.

Konvents-Präsident Giscard d'Estaing erkenne offenbar nicht die Realität an, dass neun von zehn Europäern an Gott glaubten. Die christlich-demokratischen Parteien hatten letztes Jahr die explizite Anerkennung des christlichen Erbes Europas wie auch der geistig-religiösen Traditionen in den Mitgliedstaaten gefordert.

Mehr Macht für Brüssel

Das Präsidium des Konvents hatte am 6. Februar den Entwurf für die ersten 16 Artikel der geplanten Verfassung vorgelegt. Diese beschreiben die Ziele und Werte der EU und bestimmen Grundlagen und Zuständigkeiten der Union gegenüber den Mitgliedstaaten. In Grossbritannien gingen die Wogen hoch. Wenn der Text so verabschiedet werde, schrieb der Korrespondent des Daily Telegraph, werde London die „Kontrolle über die Aussen- und Verteidigungspolitik und seine Souveränität in der Gesetzgebung in fast allen Bereichen des nationalen Lebens verlieren“.

Werte der EU säkular verankert

Eine andere Debatte dreht sich um die ideelle Grundlage der EU. Laut Artikel 2 ist die Union „gegründet auf den Werten der Achtung der Menschenwürde, auf Freiheit, Demokratie, der Herrschaft des Gesetzes und der Achtung der Menschenrechte“. Die EU sei dazu da, „durch Toleranz, Gerechtigkeit und Solidarität“ eine friedliche Gesellschaft zu verwirklichen. Giscard meinte bei der Vorstellung, der Artikel 2 werde einst vielleicht in Schulen auswendig gelernt werden...

Welche Priorität für den Kampf gegen Armut?

Die Kommission für Kirche und Gesellschaft der Konferenz Europäischer Kirchen KEK zeigte sich in einer Stellungnahme von diesem Artikel befriedigt. Zugleich rief die KEK die EU-Vordenker auf, die Solidarität und Bekämpfung der Armut als erstrangiges Ziel der Europäischen Union im Text zu verankern. Solidarität dürfe nicht auf die Beziehungen zwischen den Generationen und den Staaten beschränkt werden.

Kirchen nicht erwähnt

Im dritten Abschnitt, der die Kompetenzen der EU abgrenzt, werden Kirchen und Religionsgemeinschaften nicht erwähnt (es heisst da, dass die Union die nationalen Identitäten der Mitgliedstaaten, ihre politischen und verfassungsmässigen Strukturen respektieren will). Dies wird von der KEK bedauert. Die grossen Kirchen möchten ihren gesetzlichen Status an diesem Ort ausdrücklich erwähnt haben.

Brisant in Polen

In Polen dürfte der Entwurf die laufenden Diskussionen um den EU-Beitritt noch verschärfen. Die katholischen Bischöfe befürworten ihn generell, äussern jedoch Vorbehalte etwa hinsichtlich einer möglichen Legalisierung von Abtreibung und Euthanasie oder der rechtlichen Gleichstellung homosexueller Partnerschaften.

Quelle: Livenet, KIPA

Datum: 22.02.2003
Autor: Peter Schmid

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