Gospelkirchentag: Fest der Lebensfreude

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dirigent

Essen. “Ihr singt wie die Engel.” Tore W. Aas, Gründer des Oslo Gospel Chor, ist begeistert. Er steht auf der Bühne der Essener Gruga-Halle und dirigiert einen Chor von 2.500 deutschen Gospelfans. Auf der rechten Tribüne singen die Sopran-Stimmen, von links ertönen die Altisten und die Saalmitte teilen sich die Bässe und Tenöre. Aas ist einer der erfahrensten Chortrainer in Europa, aber mit so vielen Menschen hat er noch nie gearbeitet. Zwar sei es nicht schwerer, so einen Riesenchor zu leiten, sagt er, aber “viel, viel aufregender”. Bundesweit gründen sich immer mehr Gospelchöre. Melodien und Texte sind leicht zu erlernen, und der Rhythmus ist schneller als bei den klassischen Kirchenliedern. Gospelmusik ist so anziehend, dass selbst Kirchenferne zu den Konzerten in die Gemeinden strömen. Die Bielefelder Oberkirchenrätin Doris Damke spricht sogar von einer “neuen Erweckungsbewegung”. Um die Gospelleidenschaft weiter zu mehren, riefen die Landeskirchen von Westfalen, Lippe und dem Rheinland deshalb den ersten Gospelkirchentag ins Leben. “Die reformatorische Botschaft hat sich doch auch nicht nur durch gelehrte Schriften, sondern vor allem durch die Lieder verbreitet”, begründet Doris Damke, Mitorganisatorin des Kirchentages, den Einsatz für das moderne Liedgut. Vielleicht sei es einfacher, die frohe Botschaft singend zu verkünden.

Keine Noten, aber trotzdem ausdrucksstark

Vom Glauben erzählen die meisten Gospellieder. Das englische Wort Gospel bedeutet Evangelium, gute Nachricht. Ihren Ursprung hat die Gospelmusik in den Gesängen afrikanischer Sklaven, die im 19. Jahrhundert nach Amerika verkauft wurden. Ihre Lieder sangen sie während der harten und monotonen Feldarbeit auf Amerikas Farmen – und später auch in den Gottesdiensten. Weil sich die Schwarzen keine Noten leisten konnten, sangen sie frei. Auch heute wird weitgehend auf Noten verzichtet. Deshalb wird oft nicht so sauber gesungen, dafür aber um so ausdrucksstärker.

Beweglich sollte ein Gospelsänger sein, in den Knien, den Hüften, dem ganzen Körper. Dann klingt die Musik noch voller, noch schöner. Wie man das schafft, kann man auf dem Gospelkirchentag bei einem Workshop von Tschekpo Dan Agbetou lernen. Der Tänzer aus Benin schnipst mit den Fingern, schwingt seine Beine und Arme, als würde er schweben, und strahlt. Manchmal fehlt ihm ein Wort, um den 150 Leuten im überfüllten Saal etwas zu erklären. Aber das macht nichts, denn seine Bewegungen versteht jeder. Seine Botschaft: Wer seinen Körper nicht einsperrt und kontrolliert, sondern mit Bewegungen die Stimme unterstützt, singt besser.

Ein Fitnesstraining für die Stimmbänder

In einem anderen Seminar lernen die Teilnehmer, wie man einen Gospelchor mit Klavier begleitet, welche Technik für Gospelmusik am besten geeignet ist und wie eine begleitende Band mit dem Chor am besten harmoniert.Vor allem aber wird das Singen geübt. Bei der Sängerin Ruthild Wilson lernt die Gospelgemeinde zum Beispiel Töne werfen. A und U, Ma, Ma, Ma, Buchstaben und Laute – wie in der ersten Klasse bei den ersten Leseversuchen. Dazu kommen Atemübungen, es pfeift und zischt durch den Raum, als wäre eine Dampflok unterwegs. Fitnesstraining für die Lungen, Dehnungsübungen für die Stimmbänder. Die meisten der Teilnehmer des ersten Gospelkirchentages in Deutschland sind schon erfahrene Sänger: Denn 72 Chöre sind angereist, viele singen in Gottesdiensten, manche geben sogar eigene Konzerte. Nun singen sie erstmals zusammen und wollen zudem von den Profis der Gospelszene lernen.

“Es hört sich nur so an”

Für die Fortgeschrittenen ist der Brite David Thomas verantwortlich, der unter anderem vier Jahre beim Musical “Starlight Express” mitsang. Sein Workshop ist wie ein kleines Konzert. Immer wieder steht jemand aus dem Publikum auf und improvisiert ein Solo. Zwischendurch beantwortet Thomas Fragen. Die Stimmung ist ausgelassen, Thomas scherzt. Ob beim Gospelsingen nicht die Stimme draufgehen könne, fragt jemand. “Ich habe keine kaputte Stimme”, sagt Thomas, schmunzelt und fügt hinzu: “Es hört sich nur so an”.

Frischer, fetziger, lebendiger

Besonders ungewöhnlich ist der Workshop Choral-Gospel, den Matthias Nagel leitet. Nagel ist Kantor in einer Düsseldorfer Gemeinde und hat alte Kirchenlieder aus dem Evangelischen Gesangbuch umgeschrieben. So werden “O du fröhliche” (Jahrgang 1788) und “Ich singe dir mit Herz und Mund” (1663) jetzt schneller gesungen und mit Keyboard und Schlagzeug begleitet. Zwölf Stunden dauert es, bis Nagel ein Lied umgeschrieben hat. Die meisten Teilnehmer finden die neuen Stücke gelungen. Die neuen Stücke seien “frischer, fetziger, lebendiger”.

Bei Jugendlichen beliebt

Die Gospelsongs sind vor allem bei Jugendlichen beliebt. Auch wenn die älteste Teilnehmerin 78 Jahre alt ist - die meisten Kirchentagsgäste sind unter 30. “Gospel ist einfach die Musik unserer Zeit”, sagt Nagel. “Es entspannt die Leute, wenn sie bei einem Lied mit dem Fuss mitwippen können.” Im nächsten Jahr will er ein erstes Choral-Gospel-Liederbuch herausbringen. Dass Gospelmusik die klassischen Stücke in Zukunft ablösen könne, glaubt er jedoch nicht. “In 20 Jahren werden wir vielleicht wieder etwas anderes hören.”

Nicht aber an diesem Abend. Ein Gospelkonzert der Extraklasse haben die Veranstalter angekündigt – und ihr Versprechen mühelos gehalten. Den Anfang machen die Joy Bells, ein Chor, der mit 60 Männern und Frauen aus Schweden angereist ist. “Gott und die gute Nachricht sind an diesem Abend bei uns”, versprechen sie und singen ein voluminöses Bekenntnis zu Jesus. Es folgen das Gesangsquartett “4 your Soul” und die Hamburger Rock-, Soul- und Gospelsängerin Inga Rumpf.

Und dann betritt Gospelveteran Edward Hawkins aus den USA die Bühne. Der 59jährige singt einfach und klar, braucht nur wenige Worte und legt in diese alle Gefühle, die er empfindet. “Wenn wir Gospel spielen, singen wir von Jesus”, sagt Hawkins. Seine Musik ist eine Mischung aus Gospel, Soul und Rhythm & Blues. Berühmt geworden ist er durch ein Lied, das er 1968 komponierte, als grösster Gospelhit aller Zeiten gilt, und den jeder im Saal mitsingen kann: “Oh happy day”. Begleitet wird Hawkins vom Gospelfire Projekt, einem Zusammenschluss von Künstlern aus vier verschiedenen Staaten. Jeder von ihnen singt so gut, dass er mühelos ein eigenes Konzert geben könnte.

Sechs Stunden dauert der Konzertmarathon, und das Gospelfire Projekt hätte noch die ganze Nacht weiterspielen können. Aber für manchen Zuhörer war der Abend zu lang. Einigen fielen trotz der grandiosen Musik die Augen zu, der lange Tag forderte sein Recht.

Dennoch ist am nächsten Morgen die Halle wieder gefüllt, erneut wird gesungen und geübt. Tore W. Aas und die anderen Chortrainer kitzeln die Teilnehmer mit Komplimenten zu Höchstleistungen.

Fest der Lebensfreude

Auch viele Essener Bürger werden am Sonntag Ohrenzeugen des Gospelkirchentages. Rund 10.000 Besucher kommen jedes Wochenende in den Gruga-Park, der direkt neben der Essener Stadthalle liegt. Er verwandelt sich am Nachmittag in einen singenden, klingenden Gospelgarten. An mehreren Orten im Park singen Chöre, kaum ist der Besucher um eine Ecke gegangen, hört er schon den nächsten. Der Gospelkirchentag ist ein Fest der Lebensfreude. Am deutlichsten wird das beim Kirchentagsfinale. Die vorher geprobten Lieder werden gesungen, alle stehen, klatschen und jubeln, die Stars vom Vorabend sind wieder dabei und natürlich singen alle wieder zusammen mit Edwin Hawkins “Oh happy day”, mit einer Begeisterung, die auch für zehn Gottesdienste reichen würde. Rund 60.000 Euro stellten die drei ausrichtenden Landeskirchen für die Veranstaltung zur Verfügung. Die Verhandlungen um die Gelder waren kompliziert. “Es ist schwer, -einen Gospelkirchentag zu veranstalten, wenn zugleich Kirchen- musikerstellen gekürzt oder gestrichen werden”, sagt Klaus Teschner, Landeskirchenrat in Düsseldorf. Weil das Treffen so erfolgreich war, soll es in zwei Jahren dennoch eine Fortsetzung geben. Der Gospelzug rollt weiter.

Datum: 12.09.2002
Quelle: idea Deutschland

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