Lernen für die Zukunft in Albanien

Eine Anlehre gibt Boden unter den Füssen

Sonela Agolli leitet die Ferilasses-Berufsschule.
Kochlehrling
Madeleine Hirsch koordiniert die HEKS-Projeke in Albanien.
Im Gespräch mit dem Ausbildner
Wertvoll für die Zukunft: Umgang mit dem PC

Europa lockt. Zur Unzeit wird die Überfahrt gewagt. Anfang Januar ertranken 21 Albaner, als ihr Plastikboot in der stürmischen Adria kenterte. Es war nicht die erste Tragödie: Hunderte sind in den letzten Jahren den nassen Tod gestorben, weil sie sich ruchlosen Schlepperbanden anvertrauten. Die jüngsten Opfer hatten eineinhalb Jahreslöhne für die Überfahrt bezahlt…

Fast die Hälfte der albanischen Jugendlichen bricht die Schule vorzeitig ab, um Arbeit zu suchen. Kinder verkaufen auf der Strasse Zigaretten, Fähnchen und Wasser und waschen Autos, damit ihre Familien zu essen haben. Zehn oder mehr Stunden sind sie unterwegs; daheim warten die hungrigen Geschwister.

Neunmonatige Anlehre

Am Rand von Tirana haben 14-18-jährige Jugendlichen die Möglichkeit, eine einfache Anlehre als Koch, SchneiderIn, Coiffeuse oder Elektromechaniker zu machen. Die Berufsschule Ferilasses bietet 80 Ausbildungsplätze für je 40 Knaben und Mädchen. So kommen die Teenager weg von der Strasse und können Zukunftsperspektiven entwickeln.

Ferilasses startete 1997; die Anlehre dauert neun Monate; eben hat der neunte Kurs begonnen. Die Teilnehmer gehen drei Tage pro Woche zur Schule, damit sie noch Zeit zum Arbeiten haben. Die Leiterin der Berufsschule, die Soziologin Sonela Agolli, verweist im Gespräch mit Livenet stolz darauf, dass im letzten Jahr 65 Prozent der Abgänger eine Stelle mit Arbeitsvertrag fanden.

Besser betreut

Dies ist wesentlich den Bemühungen der Ferilasses-Sozialarbeiterinnen zu verdanken, die die Jugendlichen aussuchen und die Eltern überzeugen, dass es sich für sie mittelfristig lohnt, wenn ihre Kinder berufliche Kenntnisse erwerben. Damit ist die Tätigkeit der Sozialarbeiterinnen keineswegs abgeschlossen: Sie betreuen die Jugendlichen während der Anlehre und darüber hinaus und setzen sich bei möglichen Arbeitgebern für sie ein.

Ferilasses beschäftigt zudem eine Ärztin – viele Jugendliche wurden vorher nie medizinisch untersucht. Die Teilnehmer erhalten in der Schule auch ein nahrhaftes Mittagessen. Dies hebt ihre Motivation. Agolli: „Während die meisten Jugendlichen immer noch emigrieren wollen, haben dies vom letzten Kurs nur zwei getan.“

Von krummen Wegen abbringen

Rund 10 Prozent der Abgänger konnten nach dem Kurs eine höhere Schule besuchen. Gegen 20 Prozent können sich mit Hilfe eines ‚Werkzeugkastens’ selbständig machen. Junge Frauen aus dem Dorf erhielten eine Nähmaschine. Ihre Eltern befürchten, sie könnten auf einem langen Arbeitsweg in schlechte Hände geraten. So können sie zu Hause ein befriedigendes Einkommen erreichen.

„Wir können nur Erfolg haben, wenn wir die Herausforderungen meistern“, sagt Sonela Agolli. Zwei Kursteilnehmer, die stahlen, wurden nicht von der Schule gewiesen, sondern erhielten noch eine Chance; einer ist inzwischen als guter Koch bekannt…

Industriehallen als Unterschlupf

Ferilasses ist die Antwort des albanischen Hilfswerks ‚Useful to Albanian Women’ auf das Wuchern der Armenquartiere am Rand Tiranas. Seit dem Sturz der sozialistischen Regierung 1991 strömten Tausende Familien vom Land in die Hauptstadt. Die Einwohnerzahl Tiranas verdreifachte sich von 300’000 auf 900'000!

Die bitterarmen Menschen vom Land suchten Arbeit und versprachen sich ein besseres Leben in der Stadt. Viele von ihnen zogen in leere Fabrikhallen ein, da Wohnungen – wenn es überhaupt leerstehende gab – für sie unerschwinglich waren.

Der Traum vom Leben in der Hauptstadt

Zu diesen Menschen gehört Everest, der 1996 zusammen mit seinen Eltern und vier jüngeren Geschwistern die nordalbanische Stadt Kukes auf der Suche nach einem besseren Leben verliess. Auf dem Land verfügen nur 15 Prozent aller Wohnungen über fliessendes Wasser. Arbeitsstellen gibt es bloss wenige und der Staat hat nicht das nötige Geld, um ein funktionierendes Sozialhilfesystem zu finanzieren.

Everests Familie hatte Verwandte in Tirana, die ihnen von den vielen Vorteilen in der Hauptstadt erzählten. «Wir hörten, dass es in Tirana Arbeit gab, dass fast alle Haushalte einen Fernseher besassen und dass die meisten Menschen gut lebten», erinnert er sich. Der Alltag in Tirana war jedoch schwieriger, als die Familie dachte. Um Essen kaufen zu können, mussten alle mit anpacken. Auch der damals zehnjährige Everest. So ging er auf der Strasse Zigaretten verkaufen.

Mehr als eine Anlehre

Immerhin besuchte er daneben noch die Schule, zumindest bis zur achten Klasse. Nur noch 43 Prozent der Jugendlichen beenden in Albanien ihre obligatorische Schulzeit. 1990 waren es noch 80 Prozent. Viele brechen die Schule ab, um illegal zu arbeiten. Damit erhöht sich die Gefahr, dass sie später illegal emigrieren oder kriminell werden.

Everest packte die Chance, die ihm Ferilasses bot: Er absolvierte eine Lehre als Schneider und besuchte Englisch, Mathematik und Computerkurse. Nach der Schule fand er zwar eine Stelle, musste sie aber wegen eines Nierenleidens bald aufgeben. Viele BewohnerInnen der ehemaligen Fabriken leiden an gesundheitlichen Problemen, da die Böden und Wände der Gebäude verseucht sind. Der 17-jährige vertreibt seine Zeit mit dem Schreiben von Liedern und träumt davon, Sänger zu werden. Inzwischen hat sich seine jüngere Schwester um eine Lehrstelle bei Ferilasses beworben. Auch sie möchte gerne Schneiderin werden.

Für arbeitslose Abgänger haben die findigen Ferilasses-Leiter etwas Neues ausgedacht. Fünf von ihnen erhalten Velos geliehen, mit denen sie Leihbücher zu anderen Abgängern fahren. So wird die Weiterbildung gefördert und der Kontakt gewahrt.

Das HEKS, das Hilfswerk der Evangelischen Kirchen der Schweiz, trägt einen guten Drittel der Betriebskosten von Ferilasses (Jahresbudget 270'000 Franken).
Nähere Infos auf der Webseite www.heks.ch , unter Projekte Ausland, Albanien Tirana

Datum: 20.02.2004
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

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