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So geht es dem Libanon nach der Explosion

Der Libanon ist am Anschlag: Corona, die Explosion, eine gigantische Flüchtlingswelle. Der Libanon beherbergt weltweit am meisten Flüchtlinge pro Kopf. «Etwa jeder vierte Bewohner des Landes ist ein Flüchtling», sagt Steffen Horstmeier von Medair.
Steffen Horstmeier (Bild: Medair)
Medair hilft beim Wiederaufbau

Er ist mit einer Libanesin verheiratet und lebte selbst länger vor Ort. Im Interview mit Livenet gibt er einen Einblick in die Lage.Livenet: Steffen Horstmeier, im Westen ist der Libanon längst wieder aus den Schlagzeilen geraten – wie sieht es in Beirut heute aus, etwas mehr als einen Monat nach der Explosion?
Steffen Horstmeier:
Die verheerende Explosion forderte mehr als 200 Tote und 6'500 Verletzte – immer noch werden Menschen vermisst. Gesellschaftliche Spannungen, eine politische und eine wirtschaftliche Krise zerrissen die Stadt schon vor der Explosion. Die wirtschaftliche Lage verschlechterte sich durch die Explosion weiter. Der Hafen ist als wichtiger Wirtschaftsmotor weggebrochen und viele Unternehmen müssen aufgrund der Explosion und Covid-Einschränkungen schliessen. Die Zahl der Infizierten steigt, doch der Lockdown kann von vielen Menschen aus wirtschaftlichen Gründen nicht eingehalten werden, also ist ein weiterer Anstieg der Fälle absehbar. Auch die Flüchtlingskrise im Land macht vor der Hauptstadt nicht Halt.

Was macht Medair nun vor Ort?
Bislang hat unser Team im Bereich Notunterkünfte drei grosse Gebiete in Beirut abgedeckt und dabei über 2'800 Bausätze für Notunterkünfte verteilt. Damit konnte rund 10'000 Menschen geholfen werden. Mit Spanplatten und Plastikplanen sowie Werkzeugen wie Nägeln, Hammer, Fräser und so weiter konnten Fenster und Türen notdürftig abgedeckt werden. Wo die Menschen dazu nicht selber in der Lage waren, legten unsere Mitarbeitenden selber Hand an. Sehr wichtig waren auch die rund 2'300 verteilten Sets mit Hygieneartikeln für Erwachsene und Babys.

Rund 40 Prozent der gesamten Verteilung dieser Nothilfeartikeln in Beirut wurde von Medair geleistet – ein riesiger Effort. Inzwischen hat Medair von der Koordinierungsstelle ein viertes Gebiet zugeteilt bekommen. Im Hafengebiet gibt es drei zerstörte Krankenhäuser und zwölf kleinere Kliniken. Wir möchten zwei dieser Kliniken wiederaufbauen. Ausserdem unterstützen wir die lokale Bevölkerung mit psychosozialer Hilfe: Zunächst mit psychologischer Erstversorgung, mittlerweile wurde uns auch ein langfristiges Projekt in diesem Bereich bewilligt. So bleiben wir wohl noch weitere Monate für den Wiederaufbau vor Ort.

Wie stehen christliche Gemeinden ihren Mitmenschen in all dem bei?
Ein Grossteil der betroffenen Menschen in Beirut sind libanesische Christen. Sie erfuhren viel Unterstützung. Ganz grundsätzlich war eine grosse Solidarität von Libanesen aller Glaubensrichtungen zu spüren. Allen Landsleuten möglichst viel Hilfe zukommen zu lassen stand vor aller Religionszugehörigkeit.

Welchen Unterschied macht für Sie der Glaube in den ganzen Schwierigkeiten?
In den vielen schwierigen Situationen, denen man in einer Karriere in der humanitären Hilfe begegnet, habe ich in meinem Glauben immer viel Halt und Hilfe erfahren. Im Rückblick kann ich sehen, wie Gott mich immer wieder richtig geführt und zur rechten Zeit gestärkt hat.

Sie lebten selbst lange im Libanon und Ihre Frau stammt von dort. Wie gehen Sie persönlich mit dieser Katastrophe um?
Natürlich haben wir nach der Explosion sofort viel mit der Familie und Mitarbeitenden telefoniert. Wir sind Gott dankbar, dass niemandem von ihnen Schlimmes zugestossen ist. Allerdings wurde durch die Druckwelle das Geburtshaus meines Schwiegervaters zerstört, was für ihn sehr emotional war. Auch wenn für unsere Verwandten und Mitarbeitenden die Explosion glimpflich verlief, machen wir uns natürlich grosse Sorgen um sie wegen den anderen oben beschriebenen Krisen.

Was waren früher Ihre Aufgaben im Libanon?
Bis Anfang 2019 war ich Landesverantwortlicher des Libanon-Programms von Medair mit rund 80 Mitarbeitenden. Dabei war ich zuständig für die Gesamtkoordination unserer diversen Feldprojekte, Finanzierungs- und Reportingfragen, Kommunikation, Networking, Mitarbeiterführung und allem weiterem, was Leitungspositionen dieser Art beinhalten.

Der Libanon ist auch durch die Flüchtlingskrise gebeutelt. Wie geht es der Nation heute?
Der Libanon beherbergt weltweit am meisten Flüchtlinge pro Kopf, ungefähr jeder vierte Bewohner des Landes ist ein Flüchtling. Flüchtlinge sind überall im Land sichtbar, viele von ihnen haben in informellen Siedlungen im Bekaa-Tal Zuflucht gesucht und leben in Zelten oder halbfertigen Häusern ohne Fenster und Türen. Wir unterstützen sie dort mit baulichen, medizinischen und psychosozialen Massnahmen, um ihnen ein sichereres und besseres Leben zu ermöglichen. Darüber hinaus haben wir ein «Adressverzeichnis» der informellen Siedlungen angelegt. Anhand von GPS-Daten findet die gesamte Internationale Gemeinschaft die Flüchtlinge. Hinterlegte Informationen zeigen zudem, was an der jeweiligen Adresse benötigt wird oder bereits geliefert wurde. Das erleichtert die Hilfsleistungen für die Flüchtlinge, auch durch andere Organisationen, sehr. Denn Hilfe aus dem Ausland ist unverzichtbar. Das Land ist völlig überfordert mit der grossen Anzahl von Flüchtlingen. Dazu kommen die politische, wirtschaftliche sowie die Corona-Krise und nun noch die Explosion. Es ist klar: Es braucht viel externe Unterstützung und Zeit, damit das Land die Herausforderungen bewältigen kann.

Zur Webseite:
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Datum: 21.09.2020
Autor: Daniel Gerber
Quelle: Livenet

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