Neujahr 2016: Thomas Gerber

«Der Ton in den Medien gegenüber Freikirchen ist bissiger geworden»

Ein neues Jahr mit vielen Möglichkeiten und Herausforderungen liegt vor uns. Livenet fragt Persönlichkeiten aus Gemeinden und Werken, was sie von diesem Jahr 2016 erwarten. Heute: Thomas Gerber, Vorstandsmitglied des VFG (Freikirchen Schweiz) und in der Leitung des Evangelischen Gemeinschaftswerks EGW.
Thomas Gerber

Livenet: Was war für Sie das Highlight des letzten Jahres?
Thomas Gerber: Die Haltung der Christen in der Schweiz gegenüber den eintreffenden Flüchtlingen in den letzten Monaten hat mich berührt. Christen aus verschiedenen Kirchen, Verbänden und Gemeinden haben ihre Möglichkeiten ausgelotet, wie sie der Not begegnen können. Über die offiziellen Koordinationsstellen konnten so Flüchtlinge davor bewahrt werden, im Freien übernachten zu müssen. Diese Christen, die sich Wege zu den notleidenden Menschen suchten und sich auf diesem Weg von professionellen Organisationen beraten liessen, sind für mich lebendige Zeichen der christlichen Nächstenliebe: Da hat eine christliche Gemeinde eine für drei Monate leerstehende Wohnung als Nothilfe für eine Flüchtlingsfamilie zur Verfügung gestellt und eine professionelle Betreuung sicherstellt. Eine Selbstverständlichkeit? – Für mich ist diese Tat ein Highlight, weil sie anregt, ebenso zu handeln.

Was sind Ihrer Meinung nach im neuen Jahr besondere Chancen und Herausforderungen für uns Christen?
Der Ton in den Medien gegenüber Freikirchen und deren Mitglieder ist bissiger geworden. Engagieren sich Christen aus Überzeugung und ohne Entgelt in andere Menschen, wird dieser Dienst als versteckte Missionierung verunglimpft. Undifferenziert wird von «Freikirchlern» geschrieben, als wären diese eine spezielle Sorte Christen, vor denen man sich in Acht nehmen muss. Dieser Ton in den Medien hat aber auch eine gute Seite: Wir Christen tun gut daran, unsere Motive für unseren Dienst an Mitmenschen zu überprüfen: Warum tun wir etwas? Dienen wir, damit die andern Jesus Christus kennen lernen oder dienen wir, weil wir Jesus Christus kennengelernt haben? – Hier liegen grosse Chancen, seriös recherchierende Medien von unserer Haltung zu überzeugen.

Eine zweite Herausforderung sehe ich in der Überwindung unserer Schüchternheit: Wir haben eine Art «political correctness» entwickelt, die am Versöhnungsangebot Gottes nur die dem heutigen Menschen zumutbar erscheinenden Aspekte mitteilt. So wird stark die uneingeschränkte Liebe, die Gott gegenüber jedem Menschen hat, betont. Zugleich wird damit aber die ebenso absolute Heiligkeit Gottes kaschiert, die für eine Gottes- und Selbsterkenntnis nötig ist.

Welche Herausforderung wartet 2016 voraussichtlich auf Sie persönlich?
Im vergangenen Jahr haben wir uns in der Verbandsleitung des Evangelischen Gemeinschaftswerkes intensiv mit dem Thema «Gemeindegründung» auseinandergesetzt. Unsere Erkenntnis ist, dass es nicht unser primärer Auftrag sein kann, Gemeinden zu gründen. Es geht vielmehr darum, die gute Botschaft von Jesus Christus in frischer Art mit Worten und Taten zu verkündigen. Kommt es zu Gründungen von Gemeinden, ist dies eine Folge des Auftrags Jesu, das Evangelium zu verkünden. Meine persönliche Herausforderung für das kommende Jahr liegt darin, eine verbandsinterne Fachstelle aufzubauen, die Leute vernetzt und zusammenbringt, die das Anliegen für frische Formen von Kirche und neue Wege der Evangeliumsverkündigung teilen. Die Umsetzung und Verankerung dieser Anlauf- und Vernetzungsstelle fordert und freut mich gleichermassen.

Was liegt Ihnen für ihr Land am meisten am Herzen?
Wir haben das Privileg, in einem Land zu leben, das die Glaubens- und Gewissensfreiheit gewährleistet und zugleich die direkte Mitsprache in politischen Fragen ermöglicht. Diese einzigartige Kombination ist uns häufig zu wenig bewusst. Was könnten die Christen in unserem Land erreichen, wenn sie sich für die grossen Linien des gesellschaftlichen Lebens einsetzen? Ein grosses ethisches Thema in Zukunft wird der Stellenwert der Ehe sein. Wird an dieser Zelle der Gesellschaft laboriert, hat das weitreichende Konsequenzen für den Zusammenhalt von Mann und Frau, für Kinder und ihre Entwicklung. Ein Schulterschluss der Christen, ein gemeinsames Einstehen füreinander und für unser Land, dies ist mein Wunsch für das kommende Jahr und darüber hinaus.

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Datum: 11.01.2016
Autor: Florian Wüthrich
Quelle: Livenet

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