Erkannt

Kirchen wollen verarmte Familien unterstützen

Immer mehr Familien in der Schweiz werden arm und geraten in Not. Kirchen haben das zwar erkannt, doch fehlt noch weitgehend ein zusammenhängendes Konzept für die diakonische Unterstützung der Familie. Dabei ginge es gerade für die Kirchen um weit mehr als um wirtschaftliche Hilfe.
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Das Webseitenangebot zum Thema Familienfragen der reformierten Kirche St. Gallen ist noch leer. Das ist vielleicht ein Bild der Situation der Familienpolitik der Landeskirchen, bei denen sich noch vieles im Zustand einer Baustelle befindet. So hat praktisch keine Kirche einen Überblick über die von ihr geleistete Familienarbeit. Aber immerhin: Manche Kirchenleitungen arbeiten derzeit daran, eine bessere Übersicht zu gewinnen.

Bereits beim Gesamtbudget bekunden die Landeskirchen Mühe, ihre Aktivitäten zur Unterstützung der Familie in Zahlen anzugeben. Dass es schon aus Definitionsgründen – "Was ist eine Familie? Was ist Familienunterstützung?" – unmöglich sei, solche Angaben zu machen, wie es etwa die Verantwortlichen der Basler Kirche sagen, ist zwar nachvollziehbar, aber doch wenig befriedigend.

Problem erkannt

Dass immer mehr Familien Unterstützung nötig haben, wurde von den Landeskirchen erkannt und wird von ihnen auch ernst genommen. Die Kirche von St. Gallen hat in diesem Zusammenhang im vergangenen Herbst die Stelle eine Familienbeauftragten geschaffen. In der reformierten Kirche Zürich besteht eine solche 50-Prozent Stelle seit fünf Jahren. In der Basler Kirche sollen die Familien in den nächsten Jahren zu einem "Schwerpunkt diakonischer Arbeit" werden. Man habe festgestellt, dass es den Familien schon aus wirtschaftlichen Gründen immer schlechter geht, ist von den Familienexperten der Kantonalkirchen übereinstimmend zu hören. Doch haben die zunehmenden Schwierigkeiten für sie nicht nur wirtschaftliche Ursachen: Der Wegfall von vielen gesellschaftlichen und moralischen Richtlinien und Zwängen mache es für Familienmitglieder zunehmend schwierig sich zu orientieren und ihre persönlichen Wertmassstäbe zu hinterfragen, sagt Konrad Meyer, Leiter Diakoniestelle der reformierten Kirche Basel-Stadt. Durch die kleinere Geburtenrate steige auch der Druck auf die Familie in ihrem sozialen Umfeld, sagt Walter Wilhelm von der Fachstelle Familie in Zürich. Familie-Sein sei deshalb nicht mehr der Normalfall und Kinder würden in einem kinderarmen Umfeld schnell als störend empfunden.

Beteiligung an familienpolitischen Gremien

Die Vernetzung der Familienarbeit ist für Landeskirchen ein wichtiges Anliegen. Kirchliche Familienarbeit läuft oft in Zusammenarbeit mit nichtkirchlichen Fachstellen und politischen Gemeinden. So haben die evangelisch-reformierte und die katholische Landeskirche in Basel-Stadt im Januar gemeinsam "Vorschläge zur Entlastung von Familien" erarbeitet. Darin werden erhöhte Kinderzulagen für alle Kinder, mehr Krankenkassenverbilligungen, Mietzinsbeiträge und Steuererleichterungen vor allem für arme Familien vorgesehen. Die St. Galler Kirche schafft den Link zur Politik und zu den Gemeinwesen durch ihre Mitarbeit in der "Arbeitsgemeinschaft für Familienfragen der Kantone St. Gallen und beider Appenzell". Zu den Aufgaben der Kirchen gehört im familienpolitischen Bereich nach Auskunft des Zürcher Familienbeauftragten auch das ideelle Mittragen von politischen Vorstössen, etwa der zurzeit laufenden kantonalen Volksinitiative "Chancen für Kinder" (Ergänzungsleistungen für arme Familien).

Beratung und Gemeinschaftsangebote

Beratungsstellen wie zum Beispiel Ehe- und Lebensberatung gehören zu den ältesten Anlaufstellen der Kirche in unterstützender Familienarbeit. Sie sind heute gut ausgelastet. Von der reformierten Kantonalkirche Schaffhausen wird die Ehe- und Lebensberatung mit 25000 Franken (knapp 0,4 Prozent des kirchlichen Gesamtbudgets) unterstützt. Alle Landeskirchen führen solche Angebote oder unterstützen entsprechende in den Kirchgemeinden. Für die evangelisch-reformierte Kirche Zürich ist vor allem die Unterstützung von Familienberatungsstellen in den Kirchgemeinden von Bedeutung. Immer wichtiger werden die Gemeinschaftsangebote (Kinderbetreuung, Mittagstische, Gemeinschaftszentren). So erschien im vergangenen Jahr von der Fachstelle Familie der Zürcher Kirche ein Leitfaden zur familienergänzenden Kinderbetreuung.

Zu den von den meisten Kirchen ebenfalls unterstützten Angeboten gehören zahlreiche Schulungen und Kurse zu Familienthemen. Die Berner Kirche versucht mit verschiedenen Treffpunkt-Angeboten Mütter, Väter oder Kinder miteinander ins Gespräch zu bringen. Ein ehrgeizig angelegtes Projekt (Projekt G) soll die verschiedenen Angebote in der Familienarbeit miteinander vernetzen und neue Ideen in diesem Bereich fördern und entwickeln. Dabei wird insbesondere auch die Mitarbeit der Kinder und Jugendlichen angestrebt.

Freikirchen im Verzug

In den Freikirchen sind die diakonischen Angebote zur Unterstützung der Familien noch kaum vorhanden. Eine Ausnahme bildet lediglich die evangelisch-methodistische Kirche (EMK),wo zumindest das Bewusstsein einer diakonischen Familienarbeit in den letzten Jahren gefördert wurde. Durch Spenden werden durch die EMK Gesamtkirche einige institutionalisierte Angebote im Bereich der Familienarbeit unterstützt, etwa eine Wohngemeinschaft Mutter und Kind in Degersheim, ein Kindertagesheim in Spreitenbach oder eine Kinderkrippe in Glattbrugg. Für finanzschwache Familien hält die EMK Beiträge zur Finanzierung der Teilnahme in Kinder- und Jugendlagern bereit. Lokale Angebote der EMK-Gemeinden für Mittagstische, Mütter-Kinder-Treffpunkte oder Familiencamps werden von der Gesamtkirche unterstützt.

Keinen finanziellen Beitrag für die Unterstützung von Familien hat der "Bund Freier Evangelischer Gemeinden (FEG)" im Jahr 2003 geleistet. Immerhin hat man bei der FEG vor rund zwei Jahren ein Team für Familienarbeit geschaffen. Dieses hat sich zum Ziel gesetzt, gesellschaftliche Trends zu ermitteln, bestehende Ressourcen zu erfassen und zu nutzen, Vernetzungen aufzubauen und selber Kurse und Seminare anzubieten. Das Ziel der Arbeitsgruppe: Die Gemeinden sollen für Familienarbeit sensibilisiert und unterstützt werden.

Fundament für Gemeinschaft

Es scheint, als ob in den Fragen der diakonischen Familienarbeit bei den Landes- und Freikirchen ein allmähliches Erwachen stattfindet. In einer auseinanderdriftenden Gesellschaft wird auch von der Kirche die Familie zunehmend als Grundpfeiler des Zusammenlebens erkannt und geschätzt. So, wie es etwa Heinrich Bolleter, Bischof der EMK, an der Zentralkonferenz der EMK im Jahre 2001 sagte: "Die Begleitung der Familie bekommt eine erstrangige Bedeutung. Im schnellen Umbruch und unter den erschwerten Lebensbedingungen, wie zum Beispiel Arbeitslosigkeit plus kleine Wohnung plus keine Gesprächskultur zwischen den Generationen, sind viele Familien am Auseinanderbrechen. Man lebt total aneinander vorbei, weil man nie gelernt hat, Grenzen zu setzen oder Konflikte auszutragen. Wenn wir als EMK das Gemeinschaftliche so sehr hochhalten, dann müsste das eigentlich in den Familien beginnen."

Datum: 11.03.2004
Quelle: idea Schweiz

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